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. Julie K. Norem

Die positive Kraft negativen Denkens
(The Positive Power of Negative Thinking)
übersetzt von Christine Strüh

Scherz Verlag AG
192 Seiten
ISBN 3-502-14501-6
€ 16.90 / sFr. 29.-

Autorin

Julie Norem ist Professorin für Psychologie am Wellesley College in Massachusetts/USA und spezialisiert auf Sozialverhalten und Persönlichkeit.

So beginnt Julie Norem das erste Kapitel: «Die positive Kraft des negativen Denkens? Allein schon der Gedanke erscheint ketzerisch in unserer westlichen Leistungsgesellschaft, dieser Bastion der vollen Gläser, der Silberstreifen am Horizont und der allgegenwärtigen gelben Smileys. Will jemand allen Ernstes behaupten, es gäbe etwas Gutes am Pessimismus? Ja, genau das tue ich in diesem Buch. Der defensive Pessimismus ist eine Strategie, die ängstlichen Menschen helfen kann, ihre Angst so in den Griff zu bekommen, dass diese für sie arbeitet und nicht gegen sie.»

Ihr Plädoyer gilt dem, was sie «defensiven Pessimismus» nennt. Er ist eine bestimmte Art, mit Ängsten umzugehen, durch eine erhöhte Bereitschaft, mir drohende Gefahren zum vornherein genau vorzustellen und bereits in der Imagination einen klaren Handlungsentwurf zu kreieren und mental durchzuspielen, wie ich diesen Gefahren begegnen will, um damit drohende Katastrophen zu verhindern. Ängstliche Personen versuchen so, ihre Angst unter Kontrolle zu bekommen, was sie erst befähigt, gut zu planen.

Defensive Pessimisten setzen niedrige Erwartungen in ihre Leistungen. An einer Versuchsgruppe von Krankenpflegeschülerinnen zwischen 23 und 63 Jahren stellte das Team der Autorin fest, dass die Leistungen defensiver Pessimisten durch Ermunterung zu optimistischerem, positivem Denken, oder nur schon durch Versetzen in eine positivere, entspannte Stimmungslage, sich nicht etwa verbesserten, sondern sogar verschlechterten. Die sorglosere Stimmung scheint die Bereitschaft zur aktiven Vorsicht zu untergraben.

Julie Norem unterscheidet jedoch die erfolgreiche Strategie des defensiven Pessimismus von den kontraproduktiven Strategien des Vermeidens und der Selbstbehinderung. Wer möglichen Niederlagen und Demütigungen permanent ausweichen muss, verhindert jeden Erfolg, isoliert sich und verstärkt zugleich seine Ängste und Vermeidungstendenzen. Eine unbewusste Spielart der Vermeinungsstrategie sei die Selbstbehinderung durch Trödelei und Desorganisation. Alle anstehenden Aufgaben werden erst in letzter Minute und fürchterlichem Zeitdruck bewerkstelligt. Anstelle sinnvoller Planung überwiegen die Ausreden und Ersatzhandlungen. Mögliche schlechte Leistungen können dann wenigstens auf die Stressumstände abgeschoben werden. Was letztlich vermieden werden soll, seien Situationen, die «bewiesen», dass ich inkompetent, nicht kreativ oder dumm wäre.

Der Hauptunterschied zwischen dem defensiven Pessimismus und allen Spielarten des Vermeidens, liegt darin, dass ich mich mit ersterem den gefürchteten Gefahren stelle, also gegen die vorhandene Angst handle, mit letzteren jedoch dem Vermeidungsbefehl der Angst folge, damit vielleicht keine akuten Angstsymptome habe, mich aber gerade darum unbewusst darin bestärke, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als auszuweichen.

Entgegen dem überbordenden Kult des guten Selbstwertgefühls, dessen Pflege für ein lebenswertes Leben in den Augen seiner psychologischen Verfechter so wichtig sein soll, wird hier die ketzerische (wenn auch in früheren Zeiten noch eher wichtig genommene) Frage aufgeworfen: «Warum soll denn jeder Mensch so ein verdammt gutes Gefühl von sich selbst haben?» Hier zeigt sich aber auch die Hauptschwäche des Buches: Die Autorin hat keinen disziplinierten Umgang mit Begriffen (das mag kulturell bedingt sein; sie ist immerhin Hochschullehrerin): Schon das Hauptschlagwort des "defensiven Pessimismus" scheint mehr die Funktion zu haben, Kauflust zu fördern durch spannungsvolle Formulierungen, wie etwa auch durch die Formel «positive power of negative thinking», vernachlässigt aber für meinen (vielleicht alteuropäischen) Geschmack die Konsistenz der begrifflichen Argumentation.

Der defensive Pessimist, formuliert sie, habe, im Gegensatz zu anderen Pessimisten, Hoffnung. Nicht erst an dieser Stelle wird klar, dass ihr "defensiver Pessimist", sauberer formuliert, ein vorsichtiger Optimist ist, welcher den Schwierigkeiten und Gefahren, die er erwartet, lieber ins Auge schaut und sich auf die Tücken ihrer Bewältigung sorgsam vorbereitet, im Gegensatz zum «strategischen Optimisten», welcher «bewaffnet mit Selbstbewusstsein und einem Selbstkonzept, das die Gefahr minimal erscheinen lässt» unbekümmert drauflos agiert und allenfalls seine Ängste hinter positiven Illusionen verschwinden lässt. Gerade weil der angeblich "defensive Pessimist" soviel Zuversicht (d.h. Optimismus) einbringt, dass es sich lohne, sich aktiv vorbereitend, den möglichen Gefahren zu stellen, überwindet er tatkräftig und methodisch (also doch eher offensiv) seine Angst und verschanzt sich nicht defensiv hinter "Ausflüchten" und Vermeidungsstrategien.

Auch eine begriffskritische und inhaltliche Auseinandersetzung mit den Dogmen der Selbstkonzepte und den Allerweltsbegriffen des "Selbstbewusstseins" im Sinne des gehobenen "Selbstwertgefühls" wäre in diesem Zusammenhang zu begrüßen gewesen, gibt es doch gute Gründe für die Annahme, dass diese psychologischen Konstrukte nur Begleiterscheinungen der persönlichen Gepflogenheiten der Gefahrenwahrnehmung und des damit verbundenen Umganges mit Angst und Scham betreffen – wie tief im Unbewussten diese Muster auch immer verankert sein mögen. Auch mit der von der Autorin so genannten «Fähigkeit (eigene) negative Emotionen zu ertragen» (d.h. auch abwertende oder auch nur kritische Beurteilungen einstecken zu können) zäumt sie m.E. das Pferd am Schwanz auf. Ich muss mich nicht "selbst beherrschen", um mit meiner Enttäuschung, Wut, Kränkung usw. fertig zu werden; das geschieht vielmehr dann, wenn mir solche Beurteilungen durch andere nicht mehr so gefährlich erscheinen.

«Defensive Pessimisten unterdrücken ihre Angst nicht», schreibt Julie Norem. Genauer besehen begegnen sie ihrer Angst nicht mit pessimistischem Fatalismus und lassen sich von ihr nicht zum Vermeidungsverhalten führen, sondern begegnen ihr mit relativierendem Optimismus, was nicht optimistische Illusionen sind, sondern die Zuversicht, mit der sie Wege suchen und finden, den Gefahren zu begegnen. Es geht nicht darum «negative Emotionen zu ertragen», sondern um eine wirkliche Milderung meiner Angst und Scham, einerseits durch meine offensiven (was ja auch vorsorglich heißt!) Bemühungen zur Bewältigung der "Sache", andererseits durch die Möglichkeit, erleben zu können, dass ich auch nach möglichem Versagen, Niederlagen und selbst wirklichem Unglück mein Leben weiter gestalten kann, vielleicht etwas oder völlig anders als ich es mir vorgestellt habe, aber aktiv.

"Vorsichtige Optimisten", wie ich jetzt Norems "defensive Pessimisten" nennen will, unterschätzen manchmal ihre Leistung, was aber ihren eher zwanghaften Vorsicht zuzuschreiben ist, nicht einem Pessimismus. Es ist kein "negatives", sondern ein umsichtiges Denken, im Gegensatz zum sorglosen Optimisten, der vielleicht weniger ängstlich ist oder seine Ängste mit oberflächlichen Ablenkungsmanövern verscheuchen kann.

Erfreulich an Julie Norems Buch ist ihr Widerspruch zum amerikanischen Zuckerbäcker-Psychozirkus des «Don't worry, be happy!». Trotzdem stört mich Norems Sorglosigkeit im Umgang mit Begriffen, auch unter Berücksichtigung gewisser sprachbedingter Bedeutungsvarianten zwischen dem deutschen "Pessimismus" und dem amerikanischen "pessimism". "Pessimismus" meint eine lebensverneinende Grundhaltung, ohne Erwartungen und Hoffnungen. Norems "defensiver Pessimist" erwartet zwar stets die schlimmsten Dinge, aber, wie sie darlegt, hoffnungsvoll, mit Tatkraft und Methode.

Zusammengefasst lautet die Botschaft: Es gibt Personen, die immer das Schlimmste erwarten, sich innerlich darauf vorbereiten, es zu bewältigen und dabei recht erfolgreich sind – außer dass sie damit anderen auf die Nerven gehen. Es gibt anderseits Personen, die immer das Beste erwarten, und mit ihrer Sorglosigkeit ebenfalls meistens ihre Ziele erreichen – wenn nicht, sind die anderen schuld. Norem vergleicht die gesellschaftliche Haltung den beiden Strategien gegenüber mit jener gegenüber Links- und Rechtshändern. Na ja.

Antonio Cho

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