lyrik online stellt vor / présente — the international poetry connection presents
In einem alten Kloster lebten noch etwa dreißig Nonnen eines
auszusterbenden Ordens: des St. Augustin-Ordens. Die Mutter Oberin, Schwester
Elisabeth, war eine ältere, strenge, humorlose Nonne.
An
einem Vollmondabend, als sie im Abendgottesdienst die Lesung sprach, stellte
sich heraus, wie wenig Humor sie besaß. Sie las jeden Abend die Lesung, und
immer, wenn sie etwas besonders betonen wollte, hüpfte sie leicht mit den
Zehenspitzen nach vorne. Jedes Mal musste die jüngste Schwester des Klosters,
Schwester Lucy, darüber schmunzeln und sich das Lachen verkneifen. Doch heute
konnte sie letzteres nicht, sie wusste nicht, warum, sie brach einfach in
schallendes Gelächter aus.
Grimmig
und strafend blickte Schwester Elisabeth sie an. Als der Gottesdienst zu Ende
war, winkte die zornige Schwester die junge Nonne zu sich. Mit gesenktem Blick
wartete Lucy auf das Donnerwetter, was jetzt folgen würde. Und wie es kam!
„Was
haben Sie sich dabei gedacht, mich auszulachen? Wissen Sie eigentlich, dass sie
eine Sünde begangen haben? Es bedeutet, dass Sie gehässig sind. Als Buße für
Ihre Untat sollen Sie eine Arbeit verrichten, die Ihnen am meisten verhasst ist.
Überlegen Sie gut und antworten Sie mir ehrlich.“ Schwester Lucy brauchte
nicht lange nachzudenken; sie wusste, welche Arbeit sie ganz und gar nicht
mochte. Zerknirscht erwiderte sie kurz: „Nähen“.
„Das
trifft sich gut. Bei meiner Verfolgungsjagd auf den Einbrecher neulich bin ich
in einen Stacheldrahtzaun geraten und habe dabei einen Ärmel meiner Nonnenkluft
verloren. Sehen Sie zu, wie Sie einen passenden Ärmel finden und nähen Sie ihn
an. Ich gebe Ihnen bis morgen abend Zeit. Wenn Sie es nicht schaffen, gebe ich
Ihnen die gesamte Flickwäsche“.
Die
junge Nonne war verzweifelt. Wo in aller Welt sollte sie so schnell einen Ärmel
auftreiben?
Schwester
Lucy wusste, dass sie antworten musste, doch sie brachte keinen Ton hervor.
Schwester Kunigunde blickte auf die Näharbeit: Schwester Elisabeths Kluft, an
der ihr Ärmel schon fast angenäht war. Sie sagte kühl: „Da ist er ja!“,
nahm der jungen Schwester die Schere ab und schnitt die Naht auf. Jetzt hatte
sie ihren Ärmel wieder und wollte gehen. Da endlich schaffte es Schwester Lucy,
ein Wort über ihre Lippen zu bringen. „Warte!“ rief sie. Schwester
Kunigunde drehte sich um: „Was ist?“
„Bitte
gib mir deinen Ärmel, du brauchst ihn doch nicht mehr.“
Verwundert
schaute Kunigunde sie an. „Was denkst du? Natürlich brauche ich ihn. Ich kann
doch nicht nur mit einem Ärmel Gott entgegentreten.“
„Aber
ich brauche ihn dringend“, bettelte Lucy verzweifelt.
„Warum
denn?“ fragte Kunigunde.
Die
junge Nonne erzählte ihr die ganze Geschichte. Schwester Kunigunde sagte
mitleidsvoll: „Jetzt verstehe ich dich. Ich würde dir gern helfen, wenn ich könnte.“
Da kam
Schwester Lucy eine Idee: „Kunigunde, wolltest du nicht schon immer eine
fetzigere Kluft als deine haben?“
Ertappt
erwiderte Kunigunde: „Hat sich das herumgesprochen? Das stimmt nämlich. Ich
fand sie schon immer etwas langweilig.“
Schwester
Lucy holte die Schere hervor und schnitt von Kunigundes Kluft auch noch den
zweiten Ärmel ab.
„Na,
wie gefällt das dir? Jetzt beginnst du dein nächstes Leben wenigstens mit
Pep!“
Schwester Kunigunde schaute in den Spiegel und sagte lächelnd: „Ich
freue mich auf das kommende peppige Leben!“
Als
Dank nähte Kunigunde für Schwester Lucy den einen Ärmel an Schwester
Elisabeths Kluft an. Dann schlich sie sich zurück in den Keller, legte sich glücklich
in ihren Sarg und trat sofort wieder ihr nächstes Leben an.
Am nächsten Tag gab Schwester Lucy die Kluft ab. Die Mutter Oberin Elisabeth war sehr erstaunt über die rasche und sorgfältige Näharbeit , doch sie war zufrieden.
Zurück zur Homepage Andrea Nickels | LyrikZeit | lyrik online |