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Andrea Nickels

Der fehlende Ärmel

In einem alten Kloster lebten noch etwa dreißig Nonnen eines auszusterbenden Ordens: des St. Augustin-Ordens. Die Mutter Oberin, Schwester Elisabeth, war eine ältere, strenge, humorlose Nonne.

An einem Vollmondabend, als sie im Abendgottesdienst die Lesung sprach, stellte sich heraus, wie wenig Humor sie besaß. Sie las jeden Abend die Lesung, und immer, wenn sie etwas besonders betonen wollte, hüpfte sie leicht mit den Zehenspitzen nach vorne. Jedes Mal musste die jüngste Schwester des Klosters, Schwester Lucy, darüber schmunzeln und sich das Lachen verkneifen. Doch heute konnte sie letzteres nicht, sie wusste nicht, warum, sie brach einfach in schallendes Gelächter aus.

Grimmig und strafend blickte Schwester Elisabeth sie an. Als der Gottesdienst zu Ende war, winkte die zornige Schwester die junge Nonne zu sich. Mit gesenktem Blick wartete Lucy auf das Donnerwetter, was jetzt folgen würde. Und wie es kam!

„Was haben Sie sich dabei gedacht, mich auszulachen? Wissen Sie eigentlich, dass sie eine Sünde begangen haben? Es bedeutet, dass Sie gehässig sind. Als Buße für Ihre Untat sollen Sie eine Arbeit verrichten, die Ihnen am meisten verhasst ist. Überlegen Sie gut und antworten Sie mir ehrlich.“ Schwester Lucy brauchte nicht lange nachzudenken; sie wusste, welche Arbeit sie ganz und gar nicht mochte. Zerknirscht erwiderte sie kurz: „Nähen“.

„Das trifft sich gut. Bei meiner Verfolgungsjagd auf den Einbrecher neulich bin ich in einen Stacheldrahtzaun geraten und habe dabei einen Ärmel meiner Nonnenkluft verloren. Sehen Sie zu, wie Sie einen passenden Ärmel finden und nähen Sie ihn an. Ich gebe Ihnen bis morgen abend Zeit. Wenn Sie es nicht schaffen, gebe ich Ihnen die gesamte Flickwäsche“.

Die junge Nonne war verzweifelt. Wo in aller Welt sollte sie so schnell einen Ärmel auftreiben?

  In dieser Nacht konnte sie keinen Schlaf finden; unruhig wälzte sie sich im Bett herum und musste dauernd daran denken, wie sie zu einem Ärmel kommen könnte. Plötzlich durchfuhr es sie siedend heiß, sie hatte eine Idee, doch sie war nicht so leicht zu verwirklichen. Angst überfiel sie. Trotzdem stand sie auf, schlich sich im Nachthemd mit einer Schere in der Hand aus dem Zimmer und ging weiter auf leisen Sohlen die Treppe hinunter bis in den Keller. Als sie vor der Kellertür stand, pochte ihr Herz wild vor Aufregung. Die Tür quietschte beim Öffnen, und das ließ Schwester Lucys Herz rasen. Stockduster und kalt war es im Kellerraum; zudem auch noch unheimlich, denn hier lag der Sarg der erst kürzlich verstorbenen Mitschwester Kunigunde, die morgen beerdigt werden sollte. Die Nonne tastete nach dem Lichtschalter und knipste ihn an. Ein schummriges, kleines Licht beleuchtete jetzt den düsteren Raum. Sie ging langsam auf den Sarg  in der Mitte des Zimmers zu. Sie wusste, dass die tote Schwester Kunigunde in ihrer Kluft beerdigt werden wollte und dass Schwester Elisabeth die gleiche Größe hatte. Mit Herzklopfen öffnete Schwester Lucy den Sarg, und es ertönte ein unheimliches Quietschen, dass sie fast zu Tode erschreckte. Sie wagte kaum hinzusehen, denn sie hatte noch nie eine Leiche erblickt. Doch sie musste ja. Mutig und entschlossen beugte sie sich über die leblose Nonne, holte die Schere hervor und schnitt bedächtig einen Ärmel der Kluft ab. Sie  passte auf, dass sie nicht in die Leiche hineinschnitt, obwohl dieser das auch egal zu sein schien. Behutsam schloss sie den Sargdeckel dann wieder und ging so leise, wie sie gekommen war, doch diesmal etwas schneller, zurück in ihr Zimmer. Dort atmete sie erleichtert auf. Der Ärmel war ihr sicher, sie brauchte ihn nur noch anzunähen. Sie begab sich also an die ihr zutiefst verhasste Arbeit. Als sie beim letzten Nadelstich war, hörte sie plötzlich Schritte, die langsam die Treppe hochzukommen schienen. Vor Schreck ließ sie die Nadel fallen. Wer, in Gottes Namen, konnte denn mitten in der Nacht noch unterwegs sein? Sie lauschte angestrengt, die Schritte kamen näher und näher, dann verstummten die Geräusche. Kaum zehn Sekunden später klopfte es an ihre Tür. Schwester Lucy setzte sich kerzengerade auf und starrte verängstigt zur Tür. Sie fragte zitternd: „Wer ist da?“, doch sie erhielt keine Antwort. Stattdessen wurde die Klinke heruntergedrückt, und eine ungewöhnliche Gestalt betrat das Zimmer. Als sie näher kam, erkannte Schwester Lucy sie. Ihr Herz blieb fast stehen, sie wagte sich nicht zu rühren. Vor ihr stand Schwester Kunigunde, scheinbar auferstanden von den Toten: eine lebendige Leiche, die vor kaum zwei Stunden noch friedlich und vor allen Dingen leblos im Sarg gelegen hatte. Kein Zweifel, es war Schwester Kunigunde, sie trug eine Kluft, an der ein Ärmel fehlte. Aus diesem Grund schien sie auch gekommen zu sein, denn sie fragte die geschockte junge Nonne mit heiserer Stimme: „Wo ist mein Ärmel?“

Schwester Lucy wusste, dass sie antworten musste, doch sie brachte keinen Ton hervor. Schwester Kunigunde blickte auf die Näharbeit: Schwester Elisabeths Kluft, an der ihr Ärmel schon fast angenäht war. Sie sagte kühl: „Da ist er ja!“, nahm der jungen Schwester die Schere ab und schnitt die Naht auf. Jetzt hatte sie ihren Ärmel wieder und wollte gehen. Da endlich schaffte es Schwester Lucy, ein Wort über ihre Lippen zu bringen. „Warte!“ rief sie. Schwester Kunigunde drehte sich um: „Was ist?“

„Bitte gib mir deinen Ärmel, du brauchst ihn doch nicht mehr.“

Verwundert schaute Kunigunde sie an. „Was denkst du? Natürlich brauche ich ihn. Ich kann doch nicht nur mit einem Ärmel Gott entgegentreten.“

„Aber ich brauche ihn dringend“, bettelte Lucy verzweifelt.

„Warum denn?“ fragte Kunigunde.

Die junge Nonne erzählte ihr die ganze Geschichte. Schwester Kunigunde sagte mitleidsvoll: „Jetzt verstehe ich dich. Ich würde dir gern helfen, wenn ich könnte.“

Da kam Schwester Lucy eine Idee: „Kunigunde, wolltest du nicht schon immer eine fetzigere Kluft als deine haben?“

Ertappt erwiderte Kunigunde: „Hat sich das herumgesprochen? Das stimmt nämlich. Ich fand sie schon immer etwas langweilig.“

Schwester Lucy holte die Schere hervor und schnitt von Kunigundes Kluft auch noch den zweiten Ärmel ab.

„Na, wie gefällt das dir? Jetzt beginnst du dein nächstes Leben wenigstens mit Pep!“

Schwester Kunigunde schaute in den Spiegel und sagte lächelnd: „Ich freue mich auf das kommende peppige Leben!“

Als Dank nähte Kunigunde für Schwester Lucy den einen Ärmel an Schwester Elisabeths Kluft an. Dann schlich sie sich zurück in den Keller, legte sich glücklich in ihren Sarg und trat sofort wieder ihr nächstes Leben an.

Am nächsten Tag gab Schwester Lucy die Kluft ab. Die Mutter Oberin Elisabeth war sehr erstaunt über die rasche und sorgfältige Näharbeit , doch sie war zufrieden.


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