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Zbigniew Herbert
geboren 29.10.1924 in Lwow (Lemberg) - gestorben 28.7.1998 in Warschau
Lyriker
/ Dramatiker / Essayist

  • studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte in Krakau, Thorn und Warschau
  • arbeitete er als Bankangestellter und Redakteur einer kaufmännischen Zeitschrift
  • 1949 Austritt aus dem polnischen Schriftstellerverband wegen Kritik am Stalinismus
  • 1956 erster Gedichtband: Struna œwiatla (Lichtsaite)
  • 1962 Essayband Barbarzyñca w ogrodzie (Ein Barbar in meinem Garten), Auseinandersetzung mit europäischer Kunst und Geschichte
  • 1964 Stipendiat der Ford Foundation in Griechenland
  • 1970 Professor für moderne europäische Literatur am California State College in Los Angeles
  • 1981 Rückkehr nach Polen
  • 1983 Gedichtband "Bericht aus einer belagerten Stadt" in Paris veröffentlicht wegen Kriegsrecht in Polen; 18 Gedichte aus diesem Zyklus erschienen in Polen in einem Untergrundverlag
  • 1979 Petrarca-Preis
  • 1991 Jerusalempreis für Literatur
  • 1996, zusammen mit seinem deutschen Übersetzer Klaus Staemmler, Preis für Europäische Poesie der Stadt Münster
  • 28.7.1998 Warschau: »Mit großer Betroffenheit haben polnische Schriftsteller auf den Tod ihres Kollegen Zbigniew Herbert reagiert. Czeslaw Milosz, der Träger des Literatur-Nobelpreises von 1980, würdigte Herbert als großen Poeten. Der in Italien lebende polnische Publizist Gustaw Herling-Grudzinski sagte, die polnische Literatur werde sich lange nicht von einem so schweren Verlust erholen. Herbert war im Alter von 73 Jahren in Warschau gestorben. Er galt als einer der wichtigsten Lyriker Polens. Auch als Dramatiker und Essayist hat er sich international Anerkennung erworben.«
    (Quelle: BR-Radionachrichten)

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Gedichtbeispiele:

Angaben zum Buch

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Bericht aus dem Paradies

Im paradies dauert die arbeitswoche dreißig stunden
die löhne sind höher die preise fallen ständig
die physische arbeit quält nicht (infolge kleinerer zugkraft)
das holzhacken macht so viel aus wie das maschinenschreiben
die staatsform ist haltbar und die regierung vernünftig
wahrhaftig im paradies ist es besser als irgendwo sonst

am anfang sollte es anders sein –
strahlende kreise chöre und stufen der abstraktion
aber den körper genau von der seele zu trennen
mißlang und sie kam hier an
mit einem tropfen fett mit einem faden muskel
man mußte beschlüsse fassen
das körnchen des absoluten mit dem körnchen lehm vermischen
noch eine abweichung mehr vom dogma die letzte
Johannes nur hat es vorausgesagt: ihr werdet wiederauferstehen im fleisch

Gott bekommen nur wenige zu gesicht
er existiert nur für die aus reinem pneuma
der rest hört nachrichten von den wundern und sintfluten
mit der zeit werden alle den Gott zu sehen bekommen
wann dieses wahr wird weiß niemand

vorerst am samstag zwölf uhr mittag
heult die sirene süß
und blaue proletarier kommen aus den fabriken
sie tragen unter dem arm ihre flügel linkisch wie geigen


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Wintergarten

Die klaue des frosts hat ans fenster geklopft
das auge öffnet sich zum garten
die bäume für die sinne unbeweglich
kreisen schnell im leichten glas
und nur die unvorsichtige klaue
erklärt mit entladenem rauhreif den flug

es gibt keine erde mehr keine klebrigen tatzen
die in den leichen den blumen scharren
hinter die wolke des schnees getragen
auf linien leichter gravitationen
und nur eine weile schwarze stämme
und nur ein ast so dumpf wie ein bass
erinnerten an die stimme der erde
bevor sie das feuer des frosts betäubte

aus rhomben dreiecken pyramiden
zum trotz – der ruhelosen linie
der haare durch die blut fließt
den seiden in unvernünftigen falten
dem grünen sarg für den falter –

aus rhomben dreiecken pyramiden
baute man wieder den klugen garten
mit einem diamanten knüpft die fläche das netz
er wird nicht mehr insekten rufen
zum festmahl des honigs und des gifts

den frost willkommen heißen wenn er dir den vögeln
mit geübten schnabel das herz herausnimmt
die spur wie nester zerbricht unterwegs
und über den fluß zu gehen befiehlt

dem schwarzen stamm dem schweren leib
entwächst ein zweig der weiße atem
damit das atom aller unserer träume
sich abermals mit der luft verbindet


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Kiesel

Der kiesel ist als geschöpf
vollkommen

sich selber gleich
auf seine grenzen bedacht

genau erfüllt
vom steinernen sinn

mit einem geruch der an nichts erinnert
nichts verscheucht keinen wunsch erweckt

sein eifer und seine kühle
sind richtig und voller würde

ich spür einen schweren vorwurf
halt ich ihn in der hand
weil dann seinen edlen leib
die falsche wärme durchdringt

– kiesel lassen sich nicht zähmen
sie betrachten uns bis zum schluß
mit ruhigem sehr klarem auge


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Herr Cogito meditiert über das Leid

Alle versuche
den sogenannten kelch der bitternis abzuwenden –
durch reflexion
besessenen einsatz zu gunsten der heimlosen katzen
durch tiefes atmen
durch religion –
enttäuschten

man muß sich fügen
den kopf sanft senken
nicht die hände ringen
sich maßvoll und ungezwungen des leids bedienen
wie einer prothese
ohne falsche scham
doch ebenso ohne überflüssigen hochmut

nicht mit dem stumpf
über den köpfen der anderen fuchteln
nicht mit dem weißen stock
an die fenster der satten klopfen

den sud dieser bitteren kräuter trinken
doch nicht zur neige
vorsorglich ein paar schluck
für die zukunft lassen

annehmen
aber zugleich
innerlich absorbieren
wenn möglich
aus der materie des leids
ein ding oder eine person erschaffen

spielen
mit ihm
natürlich
spielen

spielen mit ihm
sehr behutsam
wie mit einem kinde
das krank ist
und das man am ende
mit albernen kunststücken
doch zu einem schwachen lächeln
zwingt


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Zbigniew Herbert
Herrn Cogitos Vermächtnis
89 Gedichte

Aus dem Polnischen von
Karl Dedecius (Direktor des Deutschen Polen-Institutes), Oskar Jan Tauschinski, Klaus Stemmler

Suhrkamp Verlag
184 Seiten, gebunden, DM 38.-/öS 277.-/sFr. 35.-


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