Rose Ausländer - einige Gedichte
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Mein Venedig Venedig Ich fühle sie Ich wohne meine Glocken Mein Venedig . GW 6, Fischer, 1986: Wieder ein Tag / aus Glut und Wind, S.336 |
Auf der Sichel reite ich ströme benetze Tautropfen Zaubernacht |
Mein Schlüssel
hat das Haus verloren
Ich gehe von Haus zu Haus
keines paßt
Den Schlosser
habe ich gefunden
mein Schlüssel paßt
zu seinem Grab
Das plötzliche Land
duftet nach Zeder und Zimt
Frei von Heimat und
gewohnten Worten
ersteht es blindlings aus
dem Duft der Ahnung
Die Lenden seiner Küsten
sind anfangblau
seine Firne sonnenblond
seine Städte allfarben
Mit einmal sind Menschen da
üppige Zentauren Doppelwesen aus
Blumenhäuptern und Fischleibern
Alle Geschöpfe sind
spontane Übergänge in der
sich immerfort wandelnden Landschaft
Sie haben ein Muttermal
auf Stirn Blatt und Flosse
einen Tropfen deines Bluts
Das plötzliche Land
duftet nach Zeder und Zimt
Blinder Sommer, 1965
Bruder im Exil
in Zeitungen gekleidet
gehst du der Sonne aus dem Weg
dein Koffer steht vor der Tür
von Raben bewacht
Der Baum bittet um Einlaß
in dein Vertrauen
aber du reitest ins Regenreich
wo der Dornbusch erlosch
kein Vogel ein Nest baut
Sonntag irlandgrün
im Nebel hängt eine Kirche
blühende Fenster winken
Du wendest dich ab
wanderst von Land zu Land
um die blaue Lampe zu finden
obwohl du weißt
daß der Athlet sie zertreten hat und die
Scherben zerstreut liegen in Europa
Trägst den Abend zum Strand
Sterne halten den Himmel im Gleichgewicht
daß er nicht stürze auf dich wie Amerika
das Wasser brüderlich fremd
schwemmt weg die Trümmer deines Traums
das Wasser dein
Bruder im Exil
Blinder Sommer, 1965
Die Post
bringt täglich
neue Zauberer
Man muß sich hüten
einen Brief zu öffnen
Im Nachbarhaus
sind alle schon verwandelt
in nützliche Geräte
Staubsauger Kühlschrank Bügelbrett
Ich halte mich
an meinen Spiegel
er kennt mich
er erkennt mich noch
Im Tanzsaal
die Marionetten
sind aufgezogen
die Federn summen
Dreieck und Quadrat
Drei Worte täglich
ach die Wahl fällt schwer
Die Taube klopft ans Fenster
Der Mann mit dem Messer
steht neben mir
Ich lasse sie nicht herein
Verstohlen streu ich
die Körner
Die Küche summt
in tanzenden Töpfen
Aus meinen Augen
rieselt Salz auf die Zwiebel
Die Samen des grünen Pfeffers
ertrinken im Tomatenblut
Der Muttergeist
lüftet die Deckel
Die Taube
ist in ihr Schicksal geflogen
Rote Flecken halten den Himmel wach
über Drähte die sich drehn
mit der Erde
als schlüge ein Herz
in jedem Draht
ein Leitmotiv
das verwundet
Die Rosen schmecken ranzig-rot
es ist ein saurer Sommer in der Welt
Die Beeren füllen sich mit Tinte
und auf der Lammhaut rauht das Pergament
Das Himbeerfeuer ist erloschen
es ist ein Asche nsommer in der Welt
Die Menschen gehen mit gesenkten Lidern
am rostigen Rosenufer auf und ab
Sie warten auf die Post der weißen Taube
aus einem fremden Sommer in der Welt
Die Brücke aus pedantischen Metallen
darf nur betreten wer den Marsch-Schritt hat
Die Schwalbe findet nicht nach Süden
es ist ein blinder Sommer in der Welt
Blinder Sommer, 1965
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen läßt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
Dieser Tag
vom Regen in die Traufe
Rosen im Garten
keine ohne Dornen
trinken den durstigen Tag
aus Rinnen strömt die
Zeit in die Gasse
sie redet nicht mit Engelszungen
Geduld bringt Rosen sagt sie
Geht geduldig weiter
der Regen
Ratlos
gehen wir weiter
in Redensarten
Sichtbar im Fenster die
Zeit
ein Vogel dessen Federn
aufleuchten
sich spreizen und
von dunklen Fingern
gerupft werden
Der Vogel hat keinen Körper
nur Federn die
wachsen
dir unter die Haut
Landschaft die mich
erfand
wasserarmig
waldhaarig
die Heidelbeerhügel
honigschwarz
Viersprachig verbrüderte
Lieder
in entzweiter Zeit
Aufgelöst
strömen die Jahre
ans verflossene Ufer
Ein Tag im Exil
Haus ohne Türen und Fenster
Auf weißer Tafel
mit Kohle verzeichnet
die Zeit
Im Kasten
die sterblichen Masken
Adam
Abraham
Ahasver
Wer kennt alle Namen
Ein Tag im Exil
wo die Stunden sich bücken
um aus dem Keller
ins Zimmer zu kommen
Schatten versammelt
ums Öllicht im ewigen Lämpchen
erzählen ihre Geschichten
mit zehn finstern Fingern
die Wände entlang
36 Gerechte, 1967
Tauben
Venedig im Battery Park
Vor der Statue ofLiberty liegt
der atlantische Lido
Der Ahornschatten ficht Blätter ins Haar
Finger streuen Manna für fette Tauben
Die verschmolzenen Jahreszeiten
schlagen an den Nacken
In der Luft funkeln gefiederte Fische:
Schneefedern mitten im Mai
Ein Schwarm Tauben mit trägem Aufschwung
schüttelt weiße Hagelkörner ab
Boardwalk am Battery Park
voll Geplauder und
regelmäßiger Musik der Turmuhren
die rühren die Traumtrommcl im Ohr Schlummernder
wenn in der Mittagspause
Länder vorüberbrausen
mit Küstengeruch aus Salz und Gewürz
Eine Welle wirft Neapel ans Land
im Hintergrund raucht der Vesuv:
ein Schornstein umflimmert von einem
Taubenschwarm
GW 5, Fischer, 1984: Ich höre das Herz / des Oleanders, S.86
Wann ziehn wir ein
ins besamte Wort
Löwenzahnhaus
feingesponnen
im luftfarbnen Licht
Kein Luftschloß
Wortall
jedes Wort
in der Kugel
ein Samen
Wann graben wir aus
den verschütteten Quell
werfen alle Münzen in den Brunnen
schöpfen Wassersterne
für die Löwenzahnwiese
Wann ziehn wir ein
in den Löwenzahnstern
ins besamte Wort
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