Cabaret Voltaire
Offizielle Publikation des Cabaret Voltaire
"Eine Sammlung künstlerischer und literarischer Beiträge
herausgegeben von Hugo Ball".
Zürich 31. Mai 1916
[einzige Nummer, erstmals Wort „Dada“]
Inhaltsverzeichnis:
"Als ich das Cabaret Voltaire gründete..."
Als ich das Cabaret Voltaire gründete, war ich der Meinung, es möchten sich in der Schweiz einige junge Leuten finden, denen gleich mir daran gelegen wäre, ihre Unabhängigkeit nicht nur zu geniessen, sondern auch zu dokumentieren. Ich ging zu Herrn Ephraim, dem Besitzers der "Meierei" und sagte: "Bitte, Herr Ephraim, geben Sie mir Ihren Saal. Ich möchte ein Cabaret machen." Her Ephraim war einverstanden und gab mir den Saal. Und ich ging zu einigen Bekannten un bat sie: "Bitte geben Sie mir ein Bild, eine Zeichnung, eine Gravure. Ich möchte eine kleine Ausstellung mit meinem Cabaret verbinden." Ging zu der freundlichen Züricheer Presse und bat sie: "bringen sie einige Notizen. Es soll ein internationales Cabaret werden. Wir wollen schöne dingen machen." Und man gab mir Bilder und brachte meine Notizen. Da hatten wir am 5. Februar ein Cabaret. Mde. Hennings und Mde. Leconte sangen fransösische und dänische Chansons, Her tristan Tzara rezitierte rumänische Verse. Ein Balalaika-Orchester spielte entzückende russische Volkslieder und Tänze.
Hugo Ball
Hugo Ball: Das Carousselpferd Johann
"Eins ist
gewiß", sprach Benjamin, "Intelligenz ist Dilettantismus. Intelligenz blufft uns
nicht mehr. Sie schauen hinein. Wir schauen heraus. Sie sind Jesuiten der
Nützlichkeit. Intelligent wie Savonarola, das gibt es nicht. Intelligent wie
Manasse, das gibt es. Ihre Bibel ist das bürgerliche Gesetzbuch."
"Du hast recht", sagte Jopp, "Intelligenz ist verdächtig: Scharfsinn lancierter
Reklamechefs. Der Asketenverein zum häßlichen Schenkel hat die Platonische Idee
erfunden. "Das Ding an sich" ist heute ein Schuhputzmittel. Die Welt ist keß und
voll Epilepsie."
"Genug", sprach Benjamin, "mir wird übel, wenn ich von 'Gesetz' höre und von
'Kontrast' und 'Harmonie' und von 'Also' und 'folglich'. Das Zebu ist ein
ostindischer Ochse. Und der Lämmergeier keine Stopfgans. Ich hasse die Addition
und die Niedertracht. Man soll eine Möve, die in der Sonne die Schwingen putzt,
auf sich beruhen lassen und nicht 'also' zu ihr sagen. Sie leidet darunter."
"Also", sprach Stießelhäher, "laßt uns das Carousselpferd Johann in Sicherheit
bringen und einen Kantus singen aufs 'Fabelhafte'."
"Ich weiß nicht", sprach Benjamin, "wir sollten doch lieber sofort das
Carousselpferd Johann in Sicherheit bringen. Es sind Anzeichen vorhanden, dass
Schlimmes bevorsteht."
In der Tat waren Anzeichen vorhanden, dass Schlimmes bevorstand. Ein Kopf war
gefunden worden, der schrie "Blut! Blut! Blut!" unstillbar und Petersilien
wuchsen ihm über die Backen herunter. Die Thermometer standen voll Blut. Und die
Muskelstrecker funktionierten nicht mehr.
Auf himmelblauer Tenne aber, mit großen Augen, ganz in Schweiß gebadet, stand
das Carousselpferd Johann. "Nein nein", sagte Johann, "hier bin ich geboren,
hier will ich sterben." Das war eine Unwahrheit. Denn Johanns Mutter stammte aus
Dänemark. Der Vater war Ungar. Man wurde sich aber doch einig und floh noch in
selbiger Nacht.
Jopp, Benjamin und Johann *
"Parbleu", sagte Stießelhäher, "hier hat die Welt ein Ende.
Hier ist eine Wand. Hier kommen wir nicht weiter." In der Tat gab es da eine
Wand. Die stieg senkrecht zum Himmel.
"Lachhaft", sprach Jopp, "wir haben die Fühlung verloren. Ließen uns da in die
Nacht hinein und haben vergessen, Gewichtsteine an uns zu hängen."
"Papperlapapp", sprach Stießelhäher, "hier müffelt's. Ich gehe nicht weiter.
Hier liegen Fischböcke. Hier waren die Seekatzen am Werk. Hier hat man die
Wellenböcke gemolken."
"Weiß der Teufel", sprach Runzelmann, "auch mir ist nicht recht geheuer. Man
wird uns die Scharlatanenhemden über die Ohren ziehen." Er schlotterte heftig.
"Das Ganze halt!" befahl Benjamin, "was steht da? Ein Zeiserlwagen? Grün mit
Gitterfenstern? Was wächst da? Agaven, Fächerpalmen und Tamarinden? Jopp, sieh
im Zeichenbuch nach, was das zu bedeuten hat!"
"Kommen Sie näher, meine Herren", ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen.
"Sie sind auf dem Holzweg." Es war der Häuptling Feuerschein. "Wo tappen Sie
nächtlicherweile herum? Und in welchem Aufzug? Nehmen Sie die Celluloidnasen ab!
Demaskieren Sie sich! Man kennt Sie. Was sind das für Schellenbäume, die Sie da
bei sich tragen?"
"Das sind Pritschen und Klingelstöcke und Narrenpeitschen, mit Verlaub."
"Was ist das für ein Blasinstrument?"
"Das ist der Nürnberger Trichter."
"Und was ist das für ein Watteklumpen da an der Leine?"
"Das ist das Carousselpferd Johann, bestens in Watte verpackt."
"Larifari, was wollen Sie mit dem Carousselpferd hier in der Libyschen Wüste? Wo
haben Sie das Pferd her?"
"Es ist gewissermaßen ein Symbol, Herr Feuerschein. Wenn Sie gestatten. Sie
sehen nämlich in uns den sterilisierten Phantastenklub 'Blaue Tulpe'."
"Symbol hin, Symbol her, Sie haben das Pferd dem Heeresdienste entzogen. Wie
heißen Sie?"
"Das ist ein entsetzlicher Kerl", sagte Jopp leise zu Stießelhäher, "das ist ja
die glatte Robinsonade."
"Mumpitz", sprach Stießelhäher, "er ist eine Fiktion. Das hat dieser Benjamin
angerichtet. Er denkt sich das aus und wir haben zu leiden darunter."
"Sehr geehrter Herr Feuerschein! Ihr conföderiertes Naturburschentum imponiert
uns nicht. Noch Ihre Latwergfarbe. Noch Ihre entliehene Kinodramatik. Aber ein
Wort zur Aufklärung: Wir sind Phantasten. Wir glauben nicht mehr an die
Intelligenz. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um dies Tier, dem unsere ganze
Verehrung gilt, vor dem Mob zu retten."
"Ich kann Sie verstehen", sprach Feuerschein, "aber ich bin außer Stande, Ihnen
zu helfen. Steigen Sie ein in den Zeiserlwagen! Auch das Pferd, was Sie da bei
sich haben! Vorwärts marsch, keine Umstände, einsteigen!"
Die Hündin Rosalie lag schwer in den Wochen. Fünf junge Polizeihunde erblickten das Licht der Welt. Sie trugen preußische Wappen und hatten naßgraue Köpfe. Auch fing man um diese Zeit in einem Spreekanal zu Berlin einen chinesischen Kraken. Das Tier wurde auf die Polizeiwache gebracht.
Johann und Häuptling Feuerschein *
*[Um 1992 wurde Böhm von Mathias Wien zu einem Kunstfest nach Aachen eingeladen. Sein Beitrag bestand aus einem Gemälde mit Collage-Elementen zu Hugo Balls Das Carousselpferd Johann. Während der Präsentation des Bildes las Böhm den Text vor.]