Notizen zur
Metrik
des französischen Verses seit Baudelaire
Französischer Vers:
- Prinzip der festen Silbenzahl.
- Gliederung nach Tonstellen und Einschnitt (Zäsur)
- Zäsur beim Alexandriner (= Zwölfsilber,
seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts vorherrschendend) hinter der sechsten Silbe, was
diesem Vers gelegentlich eine markante Gleichschenkligkeit verleiht:
v v v ¦ v v v
C'était au mois d'Eglad que nous
nommons juillet; (Hugo, Clarte d'âmes)
v |
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v |
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v |
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v |
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Der |
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Tag |
ist |
hin |
Die |
Nacht |
schwingt |
ih |
re |
Fahn |
Der schnelle Tag
ist hin / Die Nacht schwingt ihre Fahn (Gryphius, Abend) |
- bereits bei Corile und Racine zwölfsilbige Trimeter (alexandrin
temaire):
zwei Zäsuren (nach der 4. und 8. Silbe).
Die 6. Silbe bezeichnet eine Wortgrenze.
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Beispiele: |
Chacun plantant, - comme un outil, - son bec
impur
(Un Voyage à Cythere)
Donnez à tous - tout le bonheur - que je
n'ai pas
(Prière pour que les autres aient le bonheur)
- Victor Hugo beachtet bis zuletzt die Regel
des Zusammenfalls von Zäsur und Wortgrenze, mit gelegentlichen syntaktischen
Verschleifungen und Synkopen:
Cette nuit-la pas une - étoile ne brillait;
C'était au mois d'Eglad que nous nommons juillet;
Et sous l'azur noir, face - immense du mystère. . .
(La Legende des siècles XXIV, «Clarte d'âmes»).
(trotz Hugos zutreffendem Anspruch, dem Alexandriner, diesem
großen Tropf die Glieder ausgerenkt zu haben!)
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- Rimbaud findet 1870 in Verlaines «Fetes
galantes» folgenden Alexandriner
(damals eine Ungeheuerlichkeit!):
Et la tigresse epou - vantable d'Hyrcanie
Je courus! Et les Pé - ninsules démarrées
sonst enthält das Gedicht nur wenige irreguläre Alexandriner; im
Unterschied zum einige Monate später entstandenen Gedicht «Qu'est-ce
pour nous ..», in dem die unregelmäßig gebauten Alexandriner
überwiegen.
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- Bei den Symbolisten verschwindet die gliedernde Funktion regelmäßiger
Zäsuren nach und nach. Der Vers nähert sich als Zwölfsilber mit frei verteilten
Tonstellen der Prosa an (manchmal verkürzt oder verlängert):
Et n'en laissons voir, pour amuser les
voisins,
qu'une multitude de tres petites pattes
(Francis Jammes, «Pour son mariage»). |
- Außer dem Alexandriner finden sich in der französischen Dichtung des
19.Jahrhunderts hauptsächlich andere Verse mit gerader Silbenzahl.
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- In Baudelaires «Fleurs du Mal» nur gelegentlich Fünf- und
Siebensilber, meist vermischt mit Versen von gerader Silbenzahl.
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- Erst Verlaine macht von dem vers
impair ausgiebigen Gebrauch,
hier ein Elfsilber (durch keine gleichbleibende Zäsur gegliedert)
Dans un palais, soie et or, dans Écabatane,
De beaux demons, des Satans adolescents,
Au son d'une musique mahométane,
Font litière aux Sept Péchés dc leurs cinq sens.
(«Crimen Amoris») |
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- Verlaine
bevorzugt in den Neunsilbern seines Gedichtes Art poétique den vers
impair seiner höheren Musikalität wegen:
De la musique avant toute chose,
Et pour cela préfère l'impair... |
- Seit Malherbe kennt die hohe und gebildete
Dichtung nur reine Reime, die nach Möglichkeit auch orthographisch rein
sein wollen (anders als im Volkslied).
Auffälligste Abweichung von dieser Regel:
der (unentbehrliche) Reim von femme auf âme und flamme.
Diese Reinheitsregel wird auch von den Romantikern nicht angetastet.
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- Erst Verlaine
neigt zu häufigen Verstößen, die bei den Symbolisten weiter um sich
greifen. Assonnanzen werden als reizvoll empfunden; so bei Regnier:
suite - plainte / arbre - sable / jaune - embaume
(«Exergue») |
- Baudelaire, die Parnassiens,
und in ihrer Nachfolge Heredia, Moreas, Toulet
und Valéry, halten an der
regelmäßig gebauten Strophe fest,
innerhalb der Strophe regelmäßiger Wechsel von männlichen und weiblichen
Versausgängen
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Die Symbolisten (Regnier,
Maeterlinck, Verhaeren) wollen beides opfern und
- mischen reimende, assonierende, reimlose Verse unterschiedlicher
Länge zu freien Versfolgen
- der Reim wird aufgegeben (Gide, Ramuz, Larbaud)
- das Gedicht nähert sich noch stärker der gesprochenen Prosa an.
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- Gegen die Ablehnung (seit der Renaissance-Poetik), den Reim durch Zeilensprung
(enjambement) zu verschleifen, revoltieren die Romantiker.
Beim Enjambement wird eine Satz- oder Sinneinheit über das Versende hinaus
in den nächsten Vers gezogen.
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Deutsche Beispiele für
Zeilensprung: |
Verzauberte:
wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen. (Rilke, Die Gazelle) |
das entwickelt sich weiter bis
zur Spaltung von Wörtern über den Vers hinaus: |
DEIN UHRENGESICHT,
von Blaufeuern über-
lagert,
verschenkt seine Ziffern,meine
Herkunft
hielt Umschau, sie geht
in dich ein, die mit-
vereinten
Kristalle
flennen.
(Celan, Zeitgehöft) |
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- Vor allen will Victor Hugo durch ungewohnte Enjambements
schockieren.
Er entwickelt eine virtuose Technik der Satzverschleifung über die Versgrenze hinaus, die
bewirkt, daß die beschreibende Rede oder Apostrophe in Mäandern, Strudeln, Kaskaden
durch eine größere Anzahl von Versen hindurchlauft. (Vgl. Légende des siècles)
Der Einzelvers wird nicht länger als die kleinste, quasi selbständige Einheit
respektiert. Rhetorischer Schwung, eine aufgewühlte Bewegung durchpulsen die Strophe
oder längere Versfolgen; das redende Element gewinnt dabei ein Übergewicht über das
musikalische.
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- Baudelaire, Mallarmé, die Parnassiens, und Valéry dagegen wollen die höheren
Perfektion und bestehen auf einer stärkeren Übereinstimmung zwischen Vers- und
Satzgliederung.
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- Doch schon der frühe Verlaine
geht über die Romantiker hinaus.
Et dans la splendeur triste d'une lune
Se levant blafarde et solennelle, une
Nuit melancholique...
(»Le Rossignol» Poèmes saturniens)
- der unbestimmter Artikel als Reim auf ein Substantiv ist ein völlig
ungewohntes Enjambement Er scheint es zu lieben:
... un parfum
capiteux... qu'un
Dieu...
(Odes en son honneur, 1893)
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- Ganz auf eigene Faust bedient sich Péguy des
strenggebauten Alexandriners der Hochklassik als des Grundmaßes ]itaneiartiger
Wiederholungen und Abwandlungen.
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- Die Freiheiten in der Behandlung des Metrums (metrisch ungebunden), des
Reimes (meist reimlos) und der Strophe führen zum vers libre der Symbolisten,
der sich nach Apollinaire als allgemeine
Praxis durchsetzt.
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- Allerdings lebt daneben der seit Jahrhunderten gebräuchliche Alexandriner
weiter, gereimt oder reimlos (bei Saint-John Perse, bei Supervielle
und Yves Bonnefoy).
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- Ein Sonderfall ist Claudel. Wenige Gedichten seiner
Frühzeit sind in strengen Alexandrinem abgefaßt. Seine dramatischen Dichtungen schreibt
er in reimlosen freien Langversen, mit gelegentlich überraschendem Enjambement,
das wie eine Synkope (Ausfall eines unbetonten Vokals zwischen
zwei Konsonanten) wirkt. Zu dieser Neuerung bewogen haben dürften ihn die Bibel, Äschylos
und Pindar, doch auch Walt Whitman und späte Texte Rimbauds. Ab 1913 sind diese versets
(=mehrzeilige Einheiten) in zunehmendem Maße (meist paarweise) gereimt.
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- Daneben entwickelt sich das Prosagedicht. Baudelaire
hat es als Gattung erfunden und durchgesetzt. Mallarmé,
Rimbaud und Lautreamont entwickeln
es fort, jeder auf seine Weise. Anders als die von der Prosa abhebenden freien Rhythmen in
Novalis' «Hymnen an die Nacht» oder in Nietzsches
«Also sprach Zarathustra» will das poème en prose allein
mit den Mitteln der Prosa eine poetische Wirkung erzielen.
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Zweiter Sonderfall: Mallarmé's letztes Werk (1897) Un Coup de
dés
- ein über zehn Doppelseiten unregelmäßig verteilter Text in
verschiedenen Schriftgraden, ohne jede Interpunktion, von Leerräumen unterbrochen und
umgeben.
- optische Faktoren als Sinnträger (zum ersten Mal seit den
Bild-Gedichten des Barock), was der Text sagt, führt er selber vor: ein Ereignis,
eine Bewegung.
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- Form wird nicht mehr in Analogie zum plastischen
Kunstwerk, sondern als tönende Fortbewegung und figurative
Entfaltung verstanden (Einfluss von Richard Wagner).
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- Diese Befreiungsversuche seit Hugo, Baudelaire,
Verlaine, ... wollen dem dichterischen Wort höhere
Lebendigkeit und freiere Beweglichkeit ins Offene hin ermöglichen.
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