die Poetik [griechisch »Dichtkunst«]

Lehre von der Dichtkunst:

  1. als Lehre vom Wesen der Dichtung, den poetischen Gattungen, ihren Funktionen, den spezifischen Ausdrucksmitteln, womit sie zum Bereich der Literaturwissenschaft und der Ästhetik zählt.
  2. als normative Anweisung zum Dichten (z.B. in der Antike die Poetik des Aristoteles oder die »Ars poetica« des Horaz). Von Renaissance bis Barock (M. Opitz) entstanden in ganz Europa zahlreiche Poetiken, die am normativen Charakter der antiken Lehren orientiert waren und diese auslegten. Eine grundlegende Wende in der Geschichte der Dichtungstheorie brachte im 18.Jahrhundert die Abwendung vom Regelsystem und die Hinwendung zum Dichter und dessen Inspiration (J. G. Herder).

(c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004

das Gedichteschreiben im Besonderen:

Wir müssen uns damit abfinden, daß wir etwas Definitives über das Gedicht kaum zu erfahren vermögen. Wir können nur in uns selber eine mehr oder weniger praktikabele Vorstellung vom Gedicht ausbilden. Ich wage sogar die Behauptung, daß die Unmöglichkeit einer vollständigen Aufhellung des Sachverhalts "Gedicht" seine Fortdauer überhaupt bewirkt.

(Günter Kunert: Vor der Sintflut. Das Gedicht als Arche Noah)

 

Zitate aus der Einführung zu
Joachim Sartorius Minima Poetica
Vom Machen von Gedichten und von der Macht der Poesie
© Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999

Viele Äußerungen von Dichtern über ihren Gegenstand, über die poetische Sprache, das poetische Wort, klingen kämpferisch nach Selbstbehauptung. [...]

Gibt es [...] bei allen Differenzen, gemeinsame Merkmale? Vielleicht können wir uns darauf einigen: Poesie ist konzentriertes, verknapptes Sprechen, oder wie es Joseph Brodsky faßte: »die knappste, am stärksten verdichtete Mitteilungsweise menschlicher Erfahrung«. Sie ist, zweitens, abstrahiertes Sprechen, das vom Bedürfnis nach Mitteilung zunächst nicht wesentlich bestimmt ist. Sie stellt vielmehr den Inhalt, sprechend, Satz für Satz erst her, sie steht also für die prinzipielle Unauflöslichkeit von Form und Inhalt, die so etwas wie ihr Lebenselixier ist. Ein drittes Spezifikum ist das rhythmisierte Sprechen. Poesie tönt, atmet. Und ein viertes gilt - und hier komme ich auf die »Minima Poetica« zurück -, daß das lyrische Subjekt durch rückhaltlose Versenkung ins Eigene, meinetwegen in die eigenen Nichtigkeiten, paradoxerweise das Allgemeine sagt, eine Welt entfaltet, von der es - oft genug - durch ein Pathos der Distanz gerade Abstand zu nehmen sucht.

Denn das Gedicht ist eine Art, sich eigensinnig Welt vorzustellen. Was den Dichter bewegt, wenn er sie sich vorstellt - diese Bewegung ist im Gedicht. Ein gutes Gedicht ist eine absolute Metapher für einen Weltmoment. Weil das Gedicht, wenn es ein Gedicht ist, diesen Augenblick als Epiphanie faßt, setzt es den Fakt, daß die Welt ein Uhrwerk ist, außer Kraft. Das ist der Erfolg des Gedichts.

Wie verträgt sich nun dieser Anspruch, der zu unserer Verzauberung immer von neuem - und auch heute -eingelöst wird, wie verträgt sich, daß »die Poesie den höchstmöglichen Maßstab für jegliches sprachliche Unterfangen bietet« (Joseph Brodsky), mit den miserablen Bedingungen für das Gedichteschreiben? Gerhard Falkner umkreist in seinem Essay die Jammergestalt des Poeten - seine Erwerbslosigkeit, den Betrieb, den Lesetourismus - und kommt zu dem Schluß, daß alles getan werde, um »der rücksichtslosen Intimität des poetischen Sprechens« den Garaus zu machen und das Gedicht »in den Tod der Eloquenz« zu treiben. Der australische Dichter Les Murray hat die Inhibition, Dichter regelmäßig zu bezahlen, in Verbindung gesetzt zu der Scham, Prostituierte zu entlohnen. Denn es verletze, so Les Murray, die stillschweigende Übereinkunft, weder für die Liebe noch für das Heilige Geld zu geben, und: »Wir befinden uns immer noch im archaischen Zeitalter des Heiligen.«

[...] Jenseits aber ihrer unterschiedlichen Haltung zur Welt verweisen diese Dichter, wie auch Raoul Schrott, Bernard Noel, Cees Nooteboom oder Charles Simic, auf den Vorrang der Sprachgestalt in der Poesie. Gerade dadurch scheint sie sich von der Sprache abzuheben, die uns Tag und Nacht umgibt, von der - wie Gottfried Benn formulierte - »geradezu ontologischen Leere, die über allen Unterhaltungen liegt und die Frage nahelegt, ob die Sprache überhaupt noch einen dialogischen Charakter in einem metaphysischen Sinn hat«.

Im westlichen Europa hat sich seit Stephane Mallarme der Widerspruch der poetischen Sprache zum kommunikativen Sprechen ins Extrem gesteigert. Lyrik zielt hier nicht mehr auf einen Adressaten, der aufnehmen kann, ohne entziffern zu müssen. [...]

[Doch in Wirklichkeit reichen auch heute gebrauchten Traditionen und Formen] ... von den narrativen, pragmatisch-realistischen Dichtungstraditionen in den USA und in England über die etwas angestaubte Gedankenlyrik der älteren Generation latein-amerikanischer Dichter zu den orale Traditionen und Musik einbeziehenden, ungemein frischen Sprechweisen der Afrikaner, der Aborigines oder der Rap-Poeten aus der Karibik. Diese sprechen den Zuhörer unmittelbar an, künden von einem Leben, das unwägbar ist, ohne Sicherheiten, versehrt von Hunderten von Jahren von Kolonialherrschaft. Im Gegensatz dazu wirkt die europäische Poesie, die wir lesen und hören, oft hochartistisch, brillant, aber auch kopflastig und weniger spontan. Die Gedichte von Oswald Egger, Brigitte Oleschinski oder Raoul Schrott sind selbstbewußt Konstruktion, scharfsinniges Rätsel. Der Dichter ist Wort- und Sprachbaumeister. Das griechische Verb poieion, von dem Poesie und Poet abgeleitet sind, bedeutet ja nichts anderes als machen, herstellen, ins Werk setzen. So sind ihre Gedichte Hochkonzentrate, die sich in einer Welt proliferierender neuer Medien als das Andere behaupten wollen.

Doch wie sich die Poesie auch äußert, hermetisch oder offen subversiv, reduktionistisch oder unstillbar, Sprache scheint sich in ihr anders zu ereignen als sonst. Als fände mit ihr ein Kampf statt, der aus ihr das herausholt, was sie eigentlich ist: Überwinderin, Verwandlerin. Die Vokabeln gehen offenbar durch etwas hindurch und werden zum Gegenmodell von gängigen Sprachsystemen, werden poetische Worte.

[...] Dichter meinen, im Schreiben des Gedichts weisen sie Wirklichkeit nach, doch keine ganz imaginäre. Denn wie sonst könnten sie so fest glauben, das Gedicht sei näher an der Welt als die geläufige Sprache? Dieser Glaube macht sie bereit, so viel ihres Lebens für einige wenige Seiten zu geben.

[Auszüge von S.11-19]