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Gerhard Stumm, Alfred Pritz (Hrsg.)
Wörterbuch der Psychotherapie

Unter Mitarbeit von Martin Voracek und Paul Gumhalter.
2000. X, 854 Seiten
Gebunden DM 158.- öS 1106.-, sFr 143.-
ISBN 3-211-83248-3
Springer-Verlag Wien New York --- > Link zur Originalanzeige des Springer Verlags

Was nützt dem Leser die Meinung des Rezensenten zu einem Fachwörterbuch, außer zu wissen, dass er es hilfreich findet ... Dieses hier behandelt 1315 Stichworte zu den wesentlichen Begriffen der modernen Psychotherapie. Hilfreich ist die mehrfache Wiederholung derselben Stichworte unter dem Blickwinkel verschiedener theoretischer und methodischer Perspektiven. 360 Autorinnen und Autoren aus 14 Ländern und 51 Fachbereiche bzw. psychotherapeutische Ansätze werden mit einbezogen. Gezielte Quellenangaben am Ende jedes Stichwortes erleichtern die weiterführende Lektüre. Nicht allein für Psychotherapeuten empfehlenswert.

Um dir einen Eindruck zu vermitteln, haben ein Stichwort ausgewählt, welches für das zentrale Thema unserer Zeitschrift "Skepsis & Leidenschaft" nicht unwesentlich erscheint

Das Selbst

Dem Eigensein die Welt - doch wer sind die Einzelnen - hier ein paar psychologische Aspekte zum Ich/Selbst-Thema:


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Selbst (aus Sicht der Psychoanalyse; Selbstpsychologie).

In der Psychoanalyse spät aufgekommener Begriff, der die Gesamtheit der Person im Unterschied zu den Instanzen des Freudschen Strukturmodells Es, Ich und Überich meint. Freud selbst verwendet den Begriff nicht, er spricht aber - im Zusammenhang mit dem Ideal eines religiösen Ziels in ,,Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) - von der Stärkung des Selbstwertgefühls.

Bei Hartmann bezieht sich der Begriff bereits auf die ganze Person, auf das Subjekt, indem er den Narzissmus als libidinöse Besetzung des Selbst, nicht des Ich, versteht (Hartmann, zit. nach Laplanche & Pontalis, 1972: 201).

Jacobson beschreibt in der Tradition Fenichels zwei Quellen des Selbst bzw. der Selbstrepräsentanz:
1. die unmittelbare Wahrnehmung des inneren Erlebens, der Körpergefühle, der Gefühls- und Denkvorgänge und der zweckgerichteten Aktivität und
2. die indirekte Wahrnehmung und Introspektion, d. i die Wahrnehmung des körperlichen und seelischen Subjekts als eines Objekts (Jacobson, 1964: 31).

In der Selbstpsychologie Kohuts nimmt der Begriff eine zentrale Stellung ein. Er beschreibt eine  psychische Struktur, die phänomenologisch in zeitlicher und räumlicher Kontinuität erlebt wird. Das Selbst entwickelt sich in der Selbst-Selbstobjektbeziehung (früher: narzisstische Beziehung). Die ,,Struktur‘ des Selbst besteht im Spannungsbogen vom Pol der Strebungen zum Pol der Ideale, die über die Fähigkeiten und Fertigkeiten / Leistungen verbunden sind. Die Strebungen werden über die Spiegelung eines Selbstobjekts bekräftigt, die Idealisierung kann stattfinden, wenn ein idealisierbares Selbstobjekt vorhanden und die Fähigkeiten werden durch Erleben von essentieller Gleichheit über das gemeinsame Tun bestätigt.

Diese Auffassung des Selbst und seiner Störungen bildet seit 1977 die Grundlage der Selbstpsychologie als einer eigenständigen Richtung innerhalb der Psychoanalyse. Sie bildet auch den Paradigmenwechsel von der beobachtenden zur einfühlenden Psychoanalyse ab, denn die genannten erfahrungsnahen Begriffe der Strebung, Idealisierung etc. sind über Empathie und  Introspektion in der Analytiker-Patient-Beziehung gewonnen worden. Das Denkmodell des Selbst in der Selbstpsychologie ist dabei Individuum zentriert, die Wechselbeziehung zwischen Selbst und Selbstobjekt (Kind und Mutter, Patient und Analytiker) wird vorrangig in den genannten Begriffen der Spiegelung der Strebungen, der wachstumsfördernden Idealisierung etc. gesehen.

Die Theorie der Intersubjektivität in der Selbstpsychologie erweitert das Spektrum der Muster der Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen: sie können sehr vielfältig sein und werden zusammengefasst mit dem Begriff der -. Organizing principles (Stolorow et al., 1987) beschrieben.

 Gerhard Pawlowsky


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Selbst (aus Sicht der Analytischen Psychologie).

Von C.G. Jung etwa ab 1930 ausgearbeitete archetypische Vorstellung, ,,Subjekt meiner gesamten, also auch der unbewussten Psyche“, dabei wegen der Unangebbarkeit des Unbewussten ,,lediglich ein Grenzbegriff‘ (GW, Bd. 6, §730; Bd. 12, §247;- Ganzheit). Außerdem aufgefasst als alle Gegensätze umfassender, dynamisch wirksamer Archetyp der Ordnung und Einheit der Psyche (sh. Individuation;  Gegensatzthematik; Schatten).

Ähnliche Ideen sind z. B. Gott als geistige Figur mit einem Zentrum, das überall und einer Peripherie, die nirgends ist (Hl. Bonaventura; s. Jung, GW, Bd. 14/1, §40Fn.), östlich Atman und Tao. Jung folgend werden numinose (sh. Religion), auch paradoxe Bilder von etwas dem Ich Übergeordneten oder Ganzheit sowie Wert Symbolisierendem als Selbstsymbole verstanden (z. B. Alte(r) Weise(r), Kind [sh. Kindarchetyp], König, Held [sh. Heldenarchetyp], Heiland,  Mana-Persönlichkeit,  Mandala, Kreuz, Kostbarkeit etc.). Diese werden geträumt, imaginiert oder zuerst bzw. ausschließlich in der Projektion erfahren.

Schulenimmanente Kritik zielte besonders auf Widersprüche in Jungs Verwendung des Begriffs. Wenn man heute weiter geht und das Selbst im Zusammenspiel mit dem Ich immanent reflektiert (sh. Reflexion, immanente), wird deutlich:
Jungs Konzeption ist eine Konsequenz des geschichtlichen Prozesses, in dem das Bewusstsein fähig wurde, sich als das (früher auch ,,der“!) Ich substantivisch zu verhärten:
,,Selbst“ als Substantiv (erstarrte Flexionsform, vgl. ,,mir selbst“) wurde erst im 18. Jh. gebräuchlich. Bewusstsein in der Verfasstheit des ,,Ich“ erlebt die Seele als abgetrenntes Gegenüber (wenn diese nicht überhaupt unbewusst und allenfalls noch projiziert wird). Das erfordert dann die Konstruktion eines Begriffs, z. B. ,,Selbst“, für die Ahnung oder Vorstellung der seelischen Ganzheit mit ihrer selbstregulierenden Dynamik.
Sieht sich hingegen ,,Das Ich“ als nur eine der möglichen Ausgestaltungen der Seele, wird ,,Selbst“ zum Begriff für die ,,vollständige Dialektik des logischen Lebens der Seele“ (Giegerich, 1994: 280), in welcher sich wiederum gerichtete Individuationsimpulse ausdrücken können. Die genannten Symbole scheinen dann als eigenständige, vollwertige Momente daraus in unser Leben (vgl. Kawai, 1996: 22f.).

Andreas von Heydwolff


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Selbst (Selbstkonzept, Selbststruktur in der Klientenzentrierten Psychotherapie).

Rogers definiert den Begriff Selbst 1959 als ,,organisierte, in sich geschlossene Gestalt. [...] Es handelt sich um eine fließende, eine wechselnde Gestalt, um einen Prozess, der zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine spezifische Wesenheit ist“ (Rogers, 1987: 26).

Der Begriff als theoretische Größe war nicht von Beginn des von Rogers entwickelten Ansatzes an vorhanden, er wurde im Laufe der Zeit aus Klientenäußerungen wie ,,Ich hatte niemals Gelegenheit, ich selbst zu sein“ u. a. erschlossen, womit angedeutet ist, dass der Klient eine vage Ahnung von seinem ,,wahren Selbst“ hat (ebd.: 27). Im Entwurf der Tiefendimension der Persönlichkeit im ,,wahren Selbst“ fand Rogers Parallelen in der existentialistischen Philosophie des dänischen Philosophen Kierkegaard; ein mögliches Lebensziel des Individuums ist es, ,,das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist“ (Rogers, 1983:164ff.).

Als objektivierter und substantivierter Begriff gewann das ,,Selbst“, das, wie Rogers schreibt, ,,die Wahrnehmungscharakteristika des Ich, die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen dem Ich und anderen und verschiedenen Lebensaspekten, einschließlich der mit diesen Erfahrungen verbundenen Werte“ umfasst (Rogers, 1987:26), nie große praktische Bedeutung, wenn es auch (zusammen mit jenem von Maslow) den zentralen theoretischen Begriff der Humanistischen Psychologie darstellt (Kreuter-Szabo, 1988).

Es gibt begründete Vermutungen, dass Rogers für die Wahrnehmungspsychologie, die seinem Begriff des Selbst zugrunde liegt, Ideen von Snygg und Combs aufnahm (Rogers, 1947; Kreuter-Szabo, 1988: 72f.; vgl. auch Hutterer, 1998):
Demnach ist das von Bedeutung, was jemand wahrnimmt, nicht, was er weiß oder was er will.

Daraus entwickelte Rogers den phänomenologischen Begriff des Selbst bzw. des Selbstkonzepts, die er - in der Betonung der subjektiven Sicht der Person - nie scharf unterschied. Der Begriff des Selbstkonzepts wird im Unterschied zum Selbst häufig zur Definition der Inkongruenz, als erlebter Differenz zwischen dem Selbstkonzept und dem organismischen Selbsterleben (sh. organismische Erfahrung).

In jüngster Zeit gewinnen Überlegungen über verschiedene spezifische Gestalten des Selbstkonzepts, etwa ein soziales Selbstkonzept, ein sportliches Selbstkonzept, etc. an Boden.

Unter Selbststruktur versteht Rogers das Selbst, wenn ,,auf diese Gestalt von einem äußeren Bezugsrahmen aus“ geblickt wird (Rogers, 1987: 26). Dementsprechend wird der Begriff von Rogers und humanistisch orientierten Psychotherapeuten selten verwendet (sh. innerer Bezugsrahmen).

Gerhard Pawlowsky


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Selbst (in der Gestalttherapie).

Die psychologische Existenz des Selbst entsteht der Gestalttherapie zufolge in den Wechselbeziehungen im Organismus-Umwelt-Feld. Das Selbst ist das ,,System gegenwärtiger Kontakte“ (Peris et al., 1951) oder der ,,fundamentale Akt der Integration“ (Laura Perls); dabei wird eine ,,Selbststruktur“ vorausgesetzt, die sich im Laufe des Lebens entfaltet (McLeod‘ 1993).

Diese prozesshafte Vorstellung steht im Gegensatz zu der eines ,,wirklichen“ Selbst als Substanz oder einem ,,Kernselbst“ der Selbstpsychologien. Aber auch in der Gestalttherapie gehen einige Autoren - neben dem oben skizzierten ,,relationalen Selbst“ - von einem kontinuierlichen, beständigen Empfinden des Selbst-Seins oder einer »authentischen Persönlichkeitsschicht“ (Fritz Perls) aus; diese wird auch als personale und einzigartige Gestaltwerdung umfassenderer Ordnungen verstanden, was auf die Möglichkeit der Selbsttranszendenz hinweist. Das Selbst bringt ,,spezielle Strukturen für spezielle Zwecke“ hervor. Im allgemeinen werden drei solcher Strukturen oder Funktionen unterschieden (nicht zu verwechseln mit den ,,Instanzen“  Es,  Ich und Überich im psychoanalytischen Sinn):
1. Es-Funktion: Dies sind Körperprozesse, kreative Prozesse, diffuse Wahrnehmungen und flüchtige Signale, die besonders zu Beginn eines Kontaktprozesses (sh. Kontakt) eine Rolle spielen.
2. Ich-Funktion: sorgt für die Abgrenzung des lebendigen Organismus vom Umweltfeld und die Intentionalität des ,,Ich will“ und ; „Ich will nicht“. Die Ich-Funktion ist von gerichtetem Bewusstsein (sh. Bewusstheit) begleitet und ermöglicht das aktive Zugehen auf das Umweltfeld und bewusstes Handeln.
3. Persönlichkeitsfunktion: ist das System der Einstellungen im zwischenpersönlichen Bereich, ein verbales Abbild des Selbst, das auf die Fragen: ,,Wer bist Du?“, „Was kannst Du?“ antwortet. Die Persönlichkeitsfunktion ist somit auch die Verantwortungsstruktur des Selbst.

Die Selbstfunktionen werden als wichtige Unterstützung (Support) für Kontaktprozesse angesehen. Aufgabe der Therapie ist es, eingeschränkte Selbstfunktionen, insbesondere geschwächte oder verlorene Ich-Funktionen, wiederzugewinnen (sh. Selbstaktualisierung) und einseitige Abhängigkeiten von der Unterstützung durch die Umwelt durch Stärkung der Selbstunterstützung und Selbstverantwortung zu verringern.

Reinhard Fuhr


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Selbst (aus Sicht der Existenzanalyse).

In der Existenzanalyse ist das Selbst der (fakultative) Möglichkeitsraum des (faktischen) Ich, der sich ihm als Wertewelt repräsentiert. Dieser dynamische Begriff vom Selbst umfasst sowohl die personalen Möglichkeiten (Fähigkeiten und Begabungen) als auch die äußeren Möglichkeiten der jeweiligen Situation.

Das Verständnis des Selbst beruht auf dem anthropologischen Grundtheorem, dass sich der Mensch nicht aus sich heraus in die Welt hineinentwirft‘ weil er sein Inneres aktualisiert (sh. Selbstaktualisierungstendenz), sondern sich am Anspruch der Werte entfaltet.

»Zum Wesen des Menschen gehört sein Hingeordnet- und Ausgerichtetsein auf jemanden oder etwas“ (Frankl, 1987:77; sh. Selbst-Transzendenz).

Selbstverwirklichung ist demgemäss die Verwirklichung seiner besten, wichtigsten Möglichkeit in der jeweiligen Situation gemäß den eigenen inneren Fähigkeiten (sh. Sinn).

Lilo Tutsch


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Selbst. In der Transpersonalen Psychologie transzendiert das transpersonale Selbst die Grenzen der Persönlichkeit.

Bildlich gesprochen ist im innersten Kern unserer Persönlichkeit eine Öffnung, durch die das transpersonale Selbst hindurchscheint: Es trägt nach Leibniz den ,,Funken des Kosmos“ in sich und kann nach C.G. Jung auch als ,,Gott in uns“ bezeichnet werden (Jung, 1971: 134f.).

Im Christentum heißt es: ,,Das Reich Gottes ist in Dir“; im Buddhismus: »Schau nach innen, du bist der Buddha“; im Siddha-Yoga: ,,Gott wohnt in Dir als Du“; im Hinduismus: ,,Atman (das individuelle Bewusstsein) und Brahman (das universelle Bewusstsein) sind eins“; im Islam ,,Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn“.

Dem transpersonalen Selbst nähert man sich, wenn man sich nach Innen wendet und allmählich die Identifizierung mit dem, was wir sind und was wir haben, loszulassen bereit sind. Für Neumann (1974) ist das transpersonale Selbst das ,,dirigierende Zentrum“, von dem alle Prozesse angestoßen, geleitet, kontrolliert und ausbalanciert werden, und ,,das Selbst ist sowohl für das Psychische wie das Physische transzendent“. Es sei immer bei uns, weder geboren, noch sterblich, unzerstörbar und unverwundbar und von den Zeitläuften unbeeindruckt: Für Muktananda (1987) ist es kleiner als das Kleinste und größer als das Größte und wohnt für immer im Herzen aller Wesen. Das Selbst ist ein unlokalisierbarer Seinsgrund, aus dem der individuelle Mensch hervorbricht, und gleichzeitig geht es grenzenlos und formlos in das Sein des Seienden ein. Es ist ein Hologramm, in das der Kosmos eingefaltet ist.

Alles ist im Selbst enthalten, und daher erwirbt man vollkommenes Wissen über alle Dinge, wenn man das Selbst kennt. Das personale Selbst ist im transpersonalen aufgehoben (in einem doppelten Sinn: beherbergt und überschritten). Das transpersonale Selbst dient als Brücke zwischen dem existentiellen Selbstbewusstsein und dem transpersonalen Einheitsbewusstsein.

Sylvester Walch