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Jahrbuch der Psychoanalyse
Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte
Band 42

2000, 283 Seiten
Br. DEM 98.-
ISBN 3-7728-2042-5
Friedrich Frommann Verlag. Günther Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt


fluctuat nec mergitur

Das von Freud "Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" gewählte Motto beansprucht auch das seit vierzig Jahren bestehende Jahrbuch der Psychoanalyse für sich: die Kontinuität des psychoanalytischen Diskurses über Jahrzehnte hinweg gepflegt zu haben. Da reiht sich auch der neue Band 42 ein.

Für die Leser von Skepsis & Leidenschaft dürften zwei Aufsätze in diesem Band von besonderem Interesse sein. Der eine befasst sich mit dem Spannungsbogen Aufklärung-Romantik, der andere mit Schuld und Schuldgefühl. Auf den Ersteren soll hier ausführlicher eingegangen werden. Weitere Themen des Bandes sind Machtmissbrauch, Klassenkampf und Religion, das Trauma der Deportation, Freud und die Paradigmen "Rasse, Glaube, Hautfarbe", die geheimen Rundbriefe linker Freudianer in den Nazijahren 1934-1945, eine Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Traumtext und der hinter ihm liegenden Gedankenwelt, die Themen Krise, Gewalt, Opferung, in Shakespeares Romeo und Julia, die Problematisierung der Grenzen der Vermittlung von Gefühlen und Seelenzuständen durch die Sprache in der Oper Rusalka von Dvorak.

Prof. Martin S. Bergmann, New York, stellt in seiner Karl Abraham-Vorlesung (vom 24.3.1998) die Frage nach dem Einfluss des philosophischen Spannungsbogens zwischen Aufklärung und Romantik auf die Psychoanalyse.

Die Frage, wie weit ein Gedankengut, wie etwa das von Sigmund Freud, der Aufklärung und wie weit der Romantik zuzuordnen sei, ist ebenso verlockend wie verfänglich. Verkürzt gesehen, geht es um den Gegensatz zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Doch das »sapere aude«, von Kant als Wahlspruch der Aufklärung hervorgehoben, ist geschichtlich gesehen, vor allem eine Bekräftigung des Anspruchs der Denker und Wissenschafter, sich eigene Prinzipien des Denkens und Forschens zu schaffen, frei von jeder Bevormundung durch religiöse Offenbarungstraditionen und kirchliche Glaubensvorschriften. Deshalb wird der eigentliche Impetus der Aufklärung verfehlt, wenn man ihn nur auf  das Vertrauen in das Heil der sogenannten Vernunft beschränkt. Unsere Intuitionen, künstlerischen Inspirationen, unser Träumen und das Vertrauen in eigene Gefühle kann genau so frei von kirchlicher Bevormundung sein, wie irgendeine streng empirische Methode des rationalen Denkens.

Noch häufig wird die Romantik allzu verkürzt nur im Widerspruch zum Kernideal der Aufklärung gesehen. Philosophie und Wissenschaft fordern zu allen ernstzunehmenden Aussagen eine rational nachvollziehbare Begründung, die sich nicht auf bloße Glaubenssätze abstützt. Was das heißt, ist Gegenstand endloser, erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Diskurse. Das historische Anliegen der Aufklärung lässt sich aber durchaus andeuten mit der pragmatischen Devise: The proof of the pudding is in the eating. Und für die Beurteilung des „Eating“ sind nicht nur Philosophen und Naturwissenschafter zuständig, sondern u.a. auch Künstler und Dichter.

Ebenso wie den religiösen Rationalismus gibt es auch die aufgeklärte Romantik. Die Trennung zwischen rationaler und irrationaler Informationsverarbeitung mag z.T. hirnphysiologisch sinnvoll sein, im übrigen aber sind solche Darstellungen überholt. Der Widerspruch liegt woanders, z.B. zwischen der gesellschaftspolitischen Macht dogmatischer Denk- und Sprachregelungen und dem Bedürfnis (aber auch der Mühsal), sich selbst als letzte Instanz der eigenen Wertauffassungen zu behaupten. Romantische Strömungen, soweit sie nicht einfach als Vehikel zur Rettung religiöser Machtpositionen benutzt worden sind, setzen das Anliegen der Aufklärung fort, gerade indem sie den Bereich des sogenannten Irrationalen enttabuisiert und dem vernünftigen Diskurs zugänglich gemacht haben. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.

Auch Martin S. Bergmann hat seine Vorlesung „Der Konflikt zwischen Aufklärung und Romantik im Spiegel der Geschichte der Psychoanalyse“ (vom 24.3.1998 an der Berliner Humboldt-Universität) in der Perspektive dieses antithetischen Missverständnisses geschrieben, wie ja der Titel zeigt. Er meint, Freud habe sich als Mensch zur Romantik hingezogen gefühlt, aber als Denker der Aufklärung die Treue gehalten. Sicher zutreffend legt er dar, dass in der Traumdeutung die fruchtbare Spannung zwischen dem Interesse am Irrationalen und dem aufklärerischen Glauben, es gebe nur eine einzige,  mit rationalen Methoden auffindbare Wahrheit, sichtbar wird. Der Referent verweist auf die Würdigung dieses Sachverhaltes bei Thomas Mann und Madeleine und Henry Vermoel. Als unvereinbar mit der Philosophie der Aufklärung sieht der Autor Freuds Behauptung, dass niemand, der nicht selber analysiert worden sei, ein kompetentes Urteil über die Psychoanalyse fällen könne - jedenfalls sind solche und weitere Theorieimmunisierungen bei Freud unvereinbar mit den Forderungen empirischer Wissenschaftlichkeit. Leider steht die ganze Vorlesung im Lichte der üblichen Reduktion der Aufklärung auf den Glauben an das Heil der Herrschaft von Rationalität und Intellekt.

Das Kapitel "Schopenhauer, Nietzsche, Jung und die Ahnenreihe der Psychoanalyse" verweist auf eine frühere Freud-Vorlesung des Referenten (leider ohne Erwähnung irgendwelcher dort vorgetragener Argumente), verweilt dann allzu durchsichtig bei C.G. Jungs einstiger Nazi-Schlagseite und dessen Bestreben die Psychoanalyse in einen dionysischen Kult zu verwandeln, erwähnt darauf ganz kurz einige Spekulationen über Zusammenhänge zwischen gewissen Formulierungen bei Nietzsche und Freud, wie etwa die Idee der "ewigen Wiederkunft" und dem "Wiederholungszwang", um schließlich nachzuzählen, wie oft Freud das Wort "dämonisch" gebraucht hat, was ja völlig jenseits des aufklärerischen Ideals sei.

Die Erörterungen zur "Naturwissenschaftlichen Methode und psychoanalytischen Technik" beginnen mit der Skepsis gegenüber Freuds quasi-sachlichem Abstinenzgebot für den Analytiker und orten einen weiteren Aufklärungs-Romantik-Konflikt in der Debatte um Freuds Hervorhebung der "Einsicht" und Ferenczis Betonung des "Erlebnisses" für den Erfolg der psychoanalytischen Kur. Als wichtiges Zeugnis für Freuds aufklärerische Position i.S. von fortschrittsgläubigem Optimismus wird seine Schrift "Zukunft einer Illusion" gewichtet, worin Freud schreibt: »Der Primat des Intellekts liegt gewiss in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.« Allerdings ist für Bergmann dieses Festhalten an der Aufklärung schwer in Einklang zu bringen mit Freuds Glauben an die Macht des Aggressions- und Todestriebes. Was der Referent nicht erwähnt ist Freuds Bemühen, seine Psychoanalyse nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Theorien seiner Zeit zu gestalten. Darum baute er sie um die thermodynamische Metapher der sich verwandelnden Energie auf und benutzte auch weitere Metaphern, wie die der Entropie. Immerhin hat sich die Libidotheorie als eines der zähesten Relikte aus der Naturwissenschaftseuphorie jener Jahrhundertwende in der Geschichte der psychoanalytischen Theorien verschiedenster Spielarten und Abarten erwiesen - auch wenn sie in der Kritik der Metapsychologie später von verschiedenen Psychoanalytikern verworfen wurde.

Im Schlussteil des Referats "Nach Freud" teilt er (mit Verweis auf seine frühere Frankfurter Vorlesung) die damals kreativen Psychoanalytiker in drei Gruppen ein: 1. die Erweiterer, 2. die Veränderer, 3. die Häretiker. Er spricht im Weiteren dann allerdings nur von einigen Veränderern. Als Veränderer, welche die Psychoanalyse näher an die Romantik herangerückt hätten, nennt er Hans Loewald, Georg Klein, Heinz Kohut und Donald W. Winnicott.

Ganz ärgerlich jedoch ist der Abschluss des Referats. Da behauptet Bergmann allen Ernstes, dass sich der Nationalsozialismus als äußerste Perversion der Romantik und der Kommunismus als äußerste Perversion der Ideen der Französischen Revolution begreifen lasse. Mit dieser simplifizierenden Sensationsschlagzeile, stellt der Autor sein geschichtliches wie philosophisches Differenzierungsvermögen in ein (unnötig) schlechtes Licht. Vielleicht hat ihn die unglücklich antithetische Themenstellung zu dieser Entgleisung verführt. Gerade an der Entwicklung der ehemals Freudschen Psychoanalyse, aber auch anderen tiefenpsychologischen Richtungen, die in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert wurzeln, ließe sich beispielhaft aufzeigen, wie sich das Kernanliegen der Aufklärung sowohl in der Romantik wie auch in den folgenden philosophischen, künstlerischen, literarischen, wissenschaftlichen Strömungen immer weiter differenziert und der kirchlichen Autorität nicht nur ihre Zuständigkeit für die Perspektiven des Rationalen, sondern auch die für die Sichtweisen des Irrationalen usw. entzogen hat.

antonio cho