Leidenschaft und Skepsis
Zu den beiden Begriffen

Inhalt:


Mein Eigensein ist meine Leidenschaft und meine Skepsis

Mein Eigensein gründet in meiner Leidenschaft und auch in meiner Skepsis, aber zutiefst und zuerst in meiner Leidenschaft.
meine Leidenschaft ist mein Sein als Vulkan, als Wille und Unwille, als Lust und Unlust, als Lieben und Hassen, als Mich-freuen und Leiden, als meine angst und mein Mut.
Brennt meine Leidenschaft auch immer als Feuer des Glaubens an dieses und an jenes, so ist meine Skepsis der Zweifel daran. In ihrer bald ängstlich, bald zwanghaft erscheinenden Vorsicht, auf nichts hereinzufallen, ja nicht das Falsche zu glauben, erweist sich meine Skepsis als Abkömmling meiner Leidenschaft.

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Der Begriff "Leidenschaft"

Liebe und Hass sind nicht blind,
aber geblendet vom Feuer,
das sie selber mit sich tragen.
Friedrich Nietzsche

«Leidenschaft» steht für Gestalt und Kraft meines Wollens, meiner Wünsche, meiner Träume, meines Getriebenseins und meines Selbstgefühls. Die Leidenschaften sind in verschlungener Weise Erzeuger wie Erzeugnisse psychischer Orientierungsprozesse; sie wurzeln im Irrationalen, Leiblichen, auch in genetisch gespeicherter Information, deren Entstehung weit in die biologische Naturgeschichte zurück reicht.

Leidenschaften sind nicht bloß heftige Gefühle. Die Welt der Leidenschaften erschöpft sich weder in der Vorstellung eines chaotischen «Es», noch reduziert sie sich auf die neuronalen Schaltsysteme und deren Zentrale, den Mandelkern, welche für die Emotionen zuständig sind. Doch ihre Logik ist eine andere wie die des rationalen Denkens. Sie ist der Urgrund des Selbstgefühls und der Werte jedes einzelnen Menschen. Das nie gelüftete Geheimnis meines Erlebens, dass ich ichselbst bin, gebietet über diese Welt, welche den Gefühlsaspekt vielschichtiger seelischer Gestaltungen und Antriebe ausmacht, wie Liebe, Wut, Hass, Angst, Machtstreben, Neugier, Selbstgefühl usw. Leidenschaft ist die Gestalt und die Kraft meiner eigenen Werte, die stets tiefer gründen als bloß im Reich der Vernunft.

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Die Alltagssprache,
welche sich nicht um philosophische Begriffsabgrenzungen kümmert,
spricht all die Sachverhalte, die man im weitesten Sinne unter Leidenschaft(en) versteht,
auch mit Worten an wie:
Passion, Begierde, ungezügelte Gier, Begehrlichkeit
inniges, heftiges, heißes Verlangen, Begeisterung, Liebhaberei ...
Personen sind leidenschaftliche Musiker, leidenschaftliche Sammler,
leidenschaftliche Tänzer, leidenschaftliche Krimileser ...
sie fahren leidenschaftlich Auto, Schreiben ist ihre Leidenschaft,
sie lieben leidenschaftlich, hassen leidenschaftlich,
angeln leidenschaftlich oder spielen leidenschaftlich Schach ...
Sie sind glühende Verehrer und Verehrerinnen,  fanatische Liebhaber und Liebhaberinnen von  irgendwas Bestimmtem.
Sie sind Freaks: Techno-Freaks, Motorrad-Freaks, Party-Freaks ...
und finden die freakigen Dinge geil, megageil ...

Ein "leidenschaftsloser Mensch" kann heißen,
dass er kühl, vernunftgeleitet, berechnend sei
oder ganz einfach interesselos, lahm, ein Muffel ...

Eine selbstbeherrschte Person ist wohl nicht leidenschaftslos,
sonst gäbe es ja in ihr nichts zu beherrschen.
Selbstbeherrschung ist denn auch das Ideal vieler
die Vernunft verherrlichenden Philosophen
und Entsagung predigender Religionsstifter.

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Etymologisches

Ein kritischer Leser von "Skepsis & Leidenschaft" hat vorgeschlagen,
das Wort "Leidenschaft" doch durch das Wort "Begierde" zu ersetzen:
«Ich mag das deutsche Wort "Leiden-schaft" nicht so sehr, denn Leiden ist ein Haufen Christentum. Jesus präsentiert Leiden und Gewalt. Ich leide. Leid ist sogar eine Dauersituation, die sich nur von Zeit zu Zeit unter anderem in Form von Depression oder Aggression zum Ausdruck bringt. ... Ich nenne es Begierde, was Sie als Leidenschaft und Skepsis dichten. Begierde ist ein Wirbel, ein Sturm aber auch Rebellion und Lust, sie ist kosmisch und animalischer Sex und, ja, sogar Abenteuer.»
Die christliche Philosophie hat sich, vorgespurt durch die Antike,
tatsächlich der "Leidenschaft" in diesem Leid-Geiste angenommen.
Aber die Herkunft des Wortes ist eine andere; sie kommt nicht von Leid.

"Leidenschaft" hat (im 17. Jh.) das französische "passion" ersetzt
und ist abgeleitet vom substantivierten Verb "Leiden".
Das diesem vorangehende althochdeutsche "lidan" ist
eine Rückbildung des althochdeutschen "irlidan",
im Sinne von "erfahren, durchmachen", schließlich "erleiden".

Erst danach haben die christlichen Vorstellungen vom leidvollen Leben im Diesseits
die Verbindung zum damit nicht verwandten Wort "Leid"
im Sinne von "Bedrückung, Schmerz, Krankheit, Widerwärtigkeit,
Kummer, Plage, Ekel ..." hergestellt.

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In der Herkunft der Bedeutung von "Leidenschaft"
aus dem altgriechischen "páthos", dem lateinischen "passio" usw.
als "stark bewegter Gemütszustand", "heftige Zuneigung"
liegt ein wesentlicher Akzent auf dem Erleiden der Seele,
dem Erleben, durch die eigenen Affekte 
(Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Hingezogensein,
Verliebtheit, Hass, Sehnsucht, Eifersucht usw.)
gleichsam fremdbestimmt zu sein:
ES tut mit mir, ES packt, schüttelt, treibt mich,
auch gegen eigene vernünftige Gedanken.

Doch "Leidenschaft" ist nicht das Gegenteil von "Vernunft",
ist nicht schlichtweg "Unvernunft",
sondern sie entstammt einer anderen inneren Welt als die Vernunft -
oder in einem zeitgemäßeren Vergleich ausgedrückt:
Leidenschaft und Vernunft (wie Gefühl und Verstand) sind
unterschiedliche Ebenen der Informationsverarbeitung des menschlichen Organismus.

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Die Abwehr der Philosophen

Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntnis ausrecken, sich selber noch so objektiv vorkommen: zuletzt trägt er doch nichts davon als seine eigene Biographie.

Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.

Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschließt, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten - diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingabe in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen - das kann zu einer um so größeren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften groß und haben es immer getan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugtuungen der Leidenschaft, welche einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochenen Herzens. Jedenfalls halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten: »ihr habt ohne Leidenschaften gar nichts erlebt«. - Weil man Treue geschworen, ... - ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja, haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? ... wir müssen Verräter werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. ...
Wer nun einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer,  - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht.

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches
Der Mensch mit sich allein

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Das Geschäft der Philosophen ist die Vernunft, die Rationalität -
zumindest ist das die längste Zeit der Normalfall der abendländischen Philosophietradition
und unserer logozentrischen Kultur gewesen.
Nicht den einzelnen, besonderen Dingen und Personen,
nicht der Unordnung, der Vergänglichkeit gilt ihre geistige Liebe,
sondern ihr Blick ist stets auf das Universelle, auf das Allgemeine,
auf die logischen Regeln des Weltenlaufs,
auf die allgemeingültige Ordnung des Kosmos im Großen und im Kleinen gerichtet.
Auch solches Denken kann leidenschaftlich sein in seiner Befangenheit,
die Begegnung mit der Welt, mit dem "was der Fall ist",
das Informationsverarbeitungs-Management
ausschließlich nach bestimmten (Denk-) Methoden gestalten zu wollen,
erfüllt von tiefem Misstrauen gegenüber dem unkontrollierten, chaotischen Informationsfluss-Karneval der  Gefühle, Affekte, Leidenschaften.
Die Selbsterkenntnis, dass der Glaube an die philosophische Methoden,
auch Leidenschaft sei,
führt den logisch denken Wollenden zu einem unlösbaren Widerspruch;
was ihm Grund genug ist, diese Erkenntnis wieder zu desavouieren
und damit erfolgreich abzuwehren.

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In der griechischen Antike war,
was der moderne Sprachgebrauch "Affekt", "Leidenschaft" nennt,
eine spezielle Bedeutung des umfassenderen Begriffs "páthos" für
den Zustand der Seele, auf die etwas (äußeres) einwirkt.

Vorsokratiker

Durch solche "Einwirkungen" der Leidenschaft die Selbstbeherrschung verlieren zu können,
war dem denkenden Menschen wohl schon immer unheimlich.
Schon bei den Vorsokratikern ist zu lesen:
«Man hüte sich, die Leidenschaften zu wecken ...»
Demokrit empfahl: «Weisheit (sophia) befreit die Seele von Leidenschaften.»

Plato

Im Buch "Timaios" nennt Plato die "Lust", "den größten Köder des Übels",
im Buch "Philebos" gesteht er zu, dass die Lust zum Lebensglück gehören könne,
sofern sie in Eintracht mit der Vernunft auf das Gute ausgerichtet sei.

Aristoteles

Aristoteles sieht in den Leidenschaften
"alle Bewegungen der Seele, die von Lust oder Schmerz begleitet sind"
und postuliert als Tugend die Vermeidung der Extreme
und die Beherrschung des rechten Maßes.
Zwar anerkennt er die Affekte als natürliche Beweggründe menschlichen Verhaltens,
aber er verbannt das Unheimliche, das Erleben des Ausgeliefertseins, des Erleidens
aus den Leidenschaften, katalogisiert als "Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid,
Freude, Freundschaft, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Erbarmen"
durch den Glauben, dass die daraus erfolgenden Taten,
keineswegs unfreiwillig* geschähen.

* Doch was heißt "freiwillig"?  In der Leidenschaft erleben wir uns durchaus, oft sehr heftig, als Wollende; aber das Erleben von Freiheit bedarf schon einer hochtrainierten philosophischen Einbildungskraft.

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Stoa

... dass die Leidenschaft besser ist als der Stoizismus und die Heuchelei, dass Ehrlich-sein, selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Anteil hat; endlich, dass jeder, der frei werden will, es durch sich selber werden muss, und dass niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schoß fällt.

Friedrich Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen 4, 11

Für die Stoiker sind die Leidenschaften Krankheiten der Seele.
Das Ideal ist Leidenschaftslosigkeit (A-Pathie): «Der Weise ist ohne Leidenschaft.»
Der Grieche Zenon sieht in den Affekte/Leidenschaften
«unvernünftige und widernatürliche Regungen der Seele
oder das Maß übersteigender Trieb».
Wenn schon Gefühle, dann nur ausgewogene, vernünftig temperierte:
weise Freude, statt unbändige Lust; vernünftiges Wollen, statt Begierde;
Vorsicht, satt Furcht ... - kurz: der Wunsch nach leidenschaftslosen Gefühlen.

Die unerkannte Angst vor dem Unkontrollierbaren, bzw. seine geistige Abwehr,
erreicht in der Schule aus Stoa (Ort in Athen, an dem sich die Anhänger des Stoizismus versammelten) ihren ersten Höhepunkt im festen Glauben an die 
zwar verborgene, doch absolute Rationalität des Universums:
Sie will nicht nur System in die Philosophie bringen, sondern glaubt auch, dass
das ganze Universum bis in seine kleinsten Einzelheiten
durch das Wirken eines einzigen Prinzips vollkommen organisiert sei.
So darf auch die Leidenschaft nicht außerhalb des total überblickbaren Systems stehen:
«Leidenschaft ist Vernunft, die nur schlecht und zügellos ist,
infolge eines üblen und verfehlten Urteils,
das von Ungestüm und Heftigkeit befallen ist», 
lehrte der griechische Stoiker Chrysippos.

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Der Begriff "Skepsis"

«Skepsis» steht für das Reich des kritischen Denkens, der Orientierungsfunktion unserer Hirnrinde; sie fragt nach rationaler Erkenntnis und Irrtum; sie versucht rational zu verstehen und zweifelt am Für-wahr-gehaltenen. Sie ist zugleich ordnende, wie sinnzersetzende Reflexion, diskursives Denken. Nimmt man diesen Aspekt für sich allein, erfaßt man aber nur das Reich des Gleich-Gültigen, der wertfreien Vorstellung dessen, was ist oder nicht ist. Lebendig ist nur die leidenschaftliche Skepsis. Erfolgreich kann nur die skeptische Leidenschaft sein. Skepsis allein ist ein kraftlos gehaltenes Schwert, bloße Leidenschaft ein Schrei in Ketten.

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Skepsis ist nicht Kritik

Skepsis ist Unglaube, nicht Anklage, aber auch keine neue Religion. Niemals kann radikale Skepsis zur philosophischen Lehre werden, ohne sich in der Sackgasse der eigenen Widersprüche und rationalen Verengung zu verfangen. Leidenschaftliche Skepsis jedoch kümmert sich nicht um rationale Legitimierung – sie bleibt Sache der Einzelnen, in deren ganzen Existenz sie gründet.

Leidenschaftliche Skepsis ist der Unglaube, der, mit Leidenschaft gepaart, zum Ungehorsam werden kann, zur Empörung und Rebellion. Sie zersetzt die ewigen Werte und holt das Heilige zurück an seinen angestammten Platz, der Würde der Einzelnen. Doch Skepsis ist nicht Kritik, das unterscheidet die anarchische Sicht vom Anarchismus und den üblichen Formen von Gesellschaftskritik.

Zwar wird hier die Skepsis der bisherigen Gesellschaftskritiker keineswegs zum schlichten Irrtum erklärt – so manche üblen Prognosen haben sich bewahrheitet, so manches freiheitlich soziale Anliegen entzündet heute erst recht unsere Leidenschaft – aber es geht um die Skepsis den eigenen Positionen gegenüber, Hoffnung als Leidenschaft wird immer und notwendig existieren, aber Hoffnung als Dogma verkehrt sich zum Augenschließen, sich und den anderen Sand in die Augen streuen. Zwar gibt es in dieser absurden Welt keinen Grund, das nicht zu tun, außer der gelegentlichen Leidenschaft zur Vernunft, die dennoch nicht überschätzt werden soll, denn vernünftig sein, kann auf kurze Zeit etwas bringen, sub specie aeternitatis ist das einerlei ... Der leidenschaftliche Unglaube verharrt auch nicht im Glauben an die Eingebungen seiner eigenen Ungläubigkeit.

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Leidenschaft und Skepsis

In der Lebendigkeit der einzelnen Menschen finden sich Leidenschaft und Skepsis beinahe untrennbar verwoben. Trotzdem gibt es Schranken zwischen den beiden Welten, fehlende oder mangelhafte Verbindungen zwischen Leidenschaft und Skepsis; dem entspricht ein Mangel an Selbstgefühl. Zumeist sind solche Schranken die Folge der spontanen Neigung, leidenschaftliche Regungen vom wachen Bewusstsein fernzuhalten, um Geborgenheits- oder Identitätsverluste zu vermeiden. So oder ähnlich beschreiben es verschiedene tiefenpsychologische Modelle – doch davon soll hier nicht weiter die Rede sein.

Das innige Zusammenspiel von Leidenschaft und Skepsis erschafft für die Einzelnen die Welt ihrer Werte; Leidenschaft ist ihre Form und Kraft, Skepsis ihr Schwert im Kampf der Selbstbehauptung gegenüber der Macht der Anderen, gegenüber den Anmaßungen der Wertewelt von Gemeinschaft und Gesellschaft, die stets über meine Werte zu herrschen sucht, der Macht des Ganzen, des Systems, dem ich nur als ihr Teilchen zu dienen habe.

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Die Fata Morgana der autonomen Vernunft

Das Postulat von der «Autonomie der Vernunft» steht auf dem Banner der Sieger über die mittelalterliche Alleinherrschaft der christlichen Glaubenslehre. Halten wir es sorgsam in Ehren als Symbol einer auch heute noch notwendigen Kampfbereitschaft gegen jegliche Machtansprüche religiöser Glaubenssysteme über das Leben der Einzelnen. Doch im Handumdrehen erweist sich die vermeintliche Autonomie als bloßes Trugbild, ja als trojanisches Pferd der Diktatur der aufgeklärten Gesellschaft, welche unversehens die skeptischen Einzelnen mit ihrem Dogma vom Primat der Rationalität in die Pflicht nimmt.

So unentbehrlich das diskursive Denken für Wissenschaften und Organisationskunst ist, so behindernd, ja verhindernd kann seine Zwanghaftigkeit in anderen Bereichen der Lebensorientierung sein. Nicht nur die ausufernden philosophischen Diskurse der Moderne sind Beispiele dafür, auch der technisch-wirt­schaft­liche Effizienzzwang ist ein Symptom dieser neuen Diktatur. Auch die reine Skepsis ist diskursiv, in zwanghafter Logik fortschreitend von Vorstellung zu Vorstellung, von Argument zu Argument – Ohrfeigen haben keinen Zutritt zum erlauchten Klub der vernünftigen Argumente, Tränen noch viel weniger.

In den Ketten der Herrschaft von Rationalität und Effizienz der Kommunikation liegt auch die Sprache, deren geheimnisvoll vieldeutigen Worte zu strammen Begriffsbürgern werden, Termini, klar und unmissverständlich definiert und uniformiert nach der Mode mathematischer Formeln. Allerdings ist diese Mode längst in weiten Kreisen zur bloßen Hochstapelei verkommen («gottlob verkommen», möchte man unvorsichtigerweise fast sagen), eine Hochstapelei, welche sich mit  Metaphern aus der naturwissenschaftlichen Terminologie schmückt, aber nicht mit der schöpferischen Eingebung der Dichter, sondern um die verbreitete Wertschätzung der naturwissenschaftlichen Forschung für die Steigerung des Ansehens eigener Pseudotheorien zu nutzen – selbst im Zeitalter der Informationstechnologie werden informationsverarbeitende Vorgänge noch immer als «Energieströme/-stau» und «Gleichgewichtsprobleme» dargestellt, die «Evolution unserer Zivilisation» (z.B. Horx, 1997) wird in geometrischen Formen, Termini der Strömungslehre, «Turbulenzen», oder, besonders modisch, als «Fraktale» beschrieben, und das Ganze als neue Erkenntnis verkauft.

Leidenschaftliche Skepsis kennt das diktatorische Wesen der Vernunft und liebt sie heftig, aber ohne ihr ganz zu verfallen. Sie ist treulos. Sie kann lachen und weinen, auch über die eigenen Ideen und Leidenschaften. Sie kann sich auch abfinden mit dem Unvermeidlichen, wenn sie will; aber ihre Einsicht ins Absurde ist keine Bejahung, sondern die skeptische Leidenschaft der Verachtung des Unvermeidlichen, der Endlichkeit, des Seins zum Tode.

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Der Sinn des Lebens

Im Tanz von Leidenschaft und Skepsis entfaltet sich der Sinn des Lebens. Skepsis ohne Leidenschaft bleibt unverbindliche Logik gleich-gültiger Denkprozesse; sie ist herzlos. Leidenschaft ohne Skepsis ist kopflos – wie zauberhaft oft, wie tragisch vielfach. Ideale aber, jenseits von Leidenschaft und Skepsis der Einzelnen, sind belanglos.

Der Sinn des Lebens entsteht und vergeht mit dem Erleben. Nun geht die Klage um, über das Verschwinden der Realität und deren Ersatz durch «bloße» Simulation, einer Welt des Scheins (vgl. Baudrillard), produziert vor allem von den Massenmedien, welche die Grenzen zwischen Realität und Repräsentation immer stärker verwischen. Doch die Bedenken solcher Befunde schließen in sich die Auffassung, es gäbe ein wahres Erleben, das echte Kommunikation mit der realen Realität voraussetze, so wie das echte Brot eben nur das selbst gebackene aus dem selbst gemahlenen Mehl sei und nicht die synthetischen Produkte aus computergesteuerter Fertigung mit chemisch erzeugten oder genmanipulierten Ingredienzien.

Auch die zeitgenössischen Philosophen scheinen am Problem von Wahrheit und Lüge zu leiden. Die synthetische «Verlogenheit» der von den hochtechnisierten Massenmedien erzeugten und weltweit vermarkteten Illusionen erzeuge das große Sterben der Leidenschaften (vielleicht mit Ausnahme des Hasses / Baudrillard, 1990). Unsinn. Leidenschaften kümmern sich nicht um Wahrheit oder Lüge. Sie sind (in mir) oder sie sind nicht. Wir «echt» die Bilder sind, die sie zum Leben erwecken, steht nicht zur Frage. Wie echt sind Symbole? Es muss eine verborgene Angst vor Desorientierung (oder Desillusionierung?) sein, welche uns immer nach «Realitäten» suchen lässt, an welche der wahre Sinn des Lebens angeblich geknüpft sein müsse. Doch auf dem freien Markt der Weltenschöpfer und Illusionisten hat der liebe Gott (mit den Marken «Echt» und «Wahrheit») Konkurrenz von Hollywood und anderen allzumenschlichen Bildproduzenten bekommen. (Ärgert die Philosophen die Konkurrenz der Dichter, Regisseure, Maler, Bildhauer und Komponisten? Vor allem, wenn sie sich einen Deut um ihre ästhetischen Diskurse scheren?) Die Realität der Leidenschaft genügt sich selbst. Wer sie zum Leben erweckt, hat das richtige Produkt. Der Rest ist Langeweile.

Der Sinn des Lebens dauert vielleicht ein knappes Jahrhundert, zumeist viel weniger, selten, sehr selten mehr. Der Horizont der Skepsis reicht weit, von den Erfahrungen der Vergangenheit bis in die ferne Zukunft extrapoliert. (Der schönen Worte sind viele, auch dies: «Nicht an die nächsten Generationen zu denken, wäre egoistisch.» Doch da ist die ökonomisch-politische Wirklichkeit, die stets im Heute kämpft, deren strategischer Horizont vielleicht ins Übermorgen reicht, aber nicht über Generationen hinweg.) Der Sinn des Lebens ist kurzatmig, schnell aufgeblüht und schnell verdorrt. Doch wo endet der Horizont der Leidenschaft?