Gnosis (griech. Erkenntnis)

Was war ich?
Was bin ich?
Was werde ich sein?

 

 

Die Gnosis ist eine Erfahrung oder bezieht sich auf eine mögliche innere Erfahrung, die zu einem unverlierbaren Zustand werden soll und durch die der Mensch — in einer Erleuchtung, die sowohl Wiedergeburt als auch Vergottung ist — sich wieder in seiner Wahrheit ergreift, sich seiner erinnert und sich wieder auf sich selbst besinnt, das heißt zugleich auf seine wahre Natur und seinen wahren Ursprung; dadurch erkennt er sich in Gott, erkennt sich in ihm wieder, er erkennt Gott und erfährt sich selber als Emanation Gottes und als fremd in dieser Welt. So erlangt er mit dem Besitz seines wahren «Ich» und seines wahren Standes die Erklärung für sein Schicksal und die endgültige Gewissheit seines Heils, erfährt er sich doch als ein Wesen, das — de jure und von Ewigkeit her — erlöst ist.

Henri-Charles Puech: Phänomenologie der Gnosis.
(Collège de France, 1952-57)

Bei Platon ist Gnosis Erkenntnis des wahrhaft Seienden, manchmal bedeutet der Begriff auch "Wissenschaft" als Voraussetzung für rechtes Handeln.
Ausstrahlung auf den ganzen Mittelmeerraum, Verbindung mit orientalischen Anschauungen - in Ägypten (griechische Übersetzung des Alten Testamentes / Septuaginta / LXX):
Gnosis = Kenntnis des Lebens und seiner Gegebenheiten
Gnosis = Erkenntnis Gottes als Ewige Weisheit für den Menschen

Im Neuen Testament: eine Gabe des Heiligen Geistes, die den menschlichen Geist ergreift, und den Gläubigen am Geheimnis Jesu teilhaben lässt. Gnosis ist hier Erkenntnis der christlichen Heilswahrheit.

Nachantike, nicht(-nur)christliche Gnosis:

Spekulativ-mystische Denkweise mit jüdischen, christlichen, persischen, babylonischen, ägyptischen und griechischen Elementen.
Weisheitslehre, die nicht rational-wissensmäßig vermittelt werden kann,
die aber Erlösung spendet.
Gnosis ist weniger intellektuelle Erkenntnis als vielmehr plötzliche Wahrnehmung, mystische Schau. Sie ist das Vernehmen eines Rufs, der neue Erkenntnis eröffnet und durch sie Erlösung bringt, Befreiung des Ich von den Fesseln der Welt.
Die Gnosis will die Antworten auf alle Fragen über Gott und die Welt intuitiv erfassen. Sie ist im Unterschied zur systematisch rationalen Theologie und Philosophie mehr ein intuitives "Erfahren und Schmecken des Geistes".
Während die Philosophie Erkennen und Wirklichkeit trennt, will die Gnosis eine einheitliche Schauung eröffnen und im Gegensatz zu den Naturwissenschaften die innere Schau der Zusammenhänge finden.

Für die Kirche war die Gnosis eine gefährliche Ketzerei, welche die christlichen  Heilsgeschehnisse einzuschmelzen drohte und vergeistigend umdeutete:

Gnostische Theologen wollen die Theologie nicht als einen auf äußere Autorität gestützten Volksglauben, sondern als intutive (wissenschaftliche) Ergründung des Evangeliums verstanden haben.

Gnostische Vereinigungen hatten eigene, geheimzuhaltende kultische Riten. Geheime Traditionen (oft auf Jesus und die Apostel zurückgeführt) spielten eine große Rolle. In den gnostischen Ritualen wurde teilweise auch die spätere Entwicklung des geistbezogenen Christentums vorausgenommen.

Die Gefahr unheilbringender Gnostik (Zerstörung der Realität!) wird von gewissen rational gläubigen Autoren überall gesehen: in Reformation und Puritanismus ebenso wie in neuzeitlichen Philosophien (z.B. bei Joachim von Fiore, Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger), im Kommunismus, Nationalsozialismus ebenso wie in Positivismus, Liberalismus und vor allem der Psychoanalyse. Es ist letzlich die Gefahr der Individualisierung der Wahrheitssuche, die Loslösung vom Glauben an Autoritäten:
der gnostische Mythos handelt, sowohl in religiösen wie atheistischen heilsgeschichtlichen Dramaturgien, vom Fall, der Verblendung und schließlich dem Wiedraufstieg der Seele (Ich, Selbst) dank der Einsicht in die Göttlichkeit des eigenen Selbst. So sei z.B. der Zweck der Lehren des marxistischen oder anarchistischen Sozialismus, dem Menschen die Auseinandersetzung mit der Realität zu erleichtern, indem sie ihn davon zu überzeugen vermag, daß das Wertwidrige im Rahmen eines Heilsgeschehens notwendig sei, aber ebenso notwendig überwunden werden müsse.

Gnostizismus = die einzelnen Systeme der Gnosis.