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Rolf Dieter Brinkmann
16.4.1940 Vechta (Oldenburg) - 23.4.1975 London

Begründer einer deutschsprachigen Variante der Underground-Literatur Ende der sechziger Jahre
(beeinflusst von der amerikanischen Subkultur)

 

  • nach dem frühen Tod seiner Mutter verlässt er das Gymnasium
  • Verwaltungsangestellter
  • 1959 Buchhändlerlehre in Essen
  • bereits nach 1959 zahlreiche Gedichte und Erzählungen, die weitgehend unbekannt blieben.
  • seit Mitte der sechziger Jahre freier Schriftsteller, oftmals am Rand des Existenzminimums.
  • 1962 Beginn eines Pädagogikstudiums
  • Sein 1968 veröffentlichter Roman "Keiner weiß mehr" machte ihn mit einem Schlag bekannt. 
  • ein Jahr später Prosasammlungen "Silver Screen" (Standardlektüre der bundesdeutschen 68er-Generation). 
  • die Lyrikbände Godzilla (1968), Die Piloten (1968) und Gras (1970) publiziert, die allesamt die Züge amerikanischer Popkultur trugen. 
  • durch Übersetzer- und Herausgebertätigkeiten (ACID. Neue amerikanische Szene, 1969, zusammen mit R.-R. Rygulla) machte er die Untergrunddichtung der USA im deutschen Sprachraum bekannt
  •  zwischen 1970 und 1975 verebbte seine Schaffenskraft
  • 1974  Gast des German Departement der Universität Austin (Texas)
  • starb am 23. April 1975 bei einem Autounfall in London.
  • Posthum 1975 erster Petrarca Preistäger

 

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aus seinem erfolgreichsten Lyrikband er 70er Jahre
"Westwärts 1&2" (Copyright Rowohlt Taschenbuch 1500 / Mai 1975):

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Ein Gedicht

Hier steht ein Gedicht ohne einen Helden.
In diesem Gedicht gibts keine Bäume. Kein Zimmer
zum Hineingehen und Schlafen ist hier in dem
Gedicht. Keine Farbe kannst du in diesem

Gedicht hier sehen. Keine Gefühle sind
in dem Gedicht. Nichts ist in diesem Gedicht
hier zum Anfassen. Es gibt keine Gerüche hier in
diesem Gedicht. Keiner braucht über einen Zaun

oder über eine Mauer in diesem Gedicht zu klettern.
Es gibt in diesem Gedicht hier nichts zu fühlen.
Das Gedicht hier kannst du nicht überziehen.
Es ist nicht aus Gummi. Kein weißer Schatten

ist in dem Gedicht hier. Kein Mensch kommt
hier in diesem Gedicht von einer Reise zurück.
Kein Mensch kommt in diesem Gedicht hier atemlos
die Treppe herauf. Das Gedicht hier macht keine

Versprechungen. In dem Gedicht stirbt auch keiner.
In diesem Gedicht spürst du keinen Hauch. Es gibt
keinen Laut der Freude in dem Gedicht hier. Kein
Mensch ist In. dem Gedicht hier verzweifelt. Hier

in dem Gedicht ist es ganz still. Niemand
klagt in diesem Gedicht. Niemand redet hier
in dem Gedicht. Hier in diesem Gedicht schlagen
sich auch keine Arbeiter wund. Das Gedicht hier

steht einfach nur hier. Es enthält keine Schlüssel
zum Aufschließen von Türen. Es gibt keine Türen
in diesem Gedicht. Das Gedicht hier ist ohne
Musik. Es singt keiner in diesem Gedicht, und

keiner macht hier in diesem Gedicht jemanden
nach. Keiner schreit hier in dem Gedicht, flucht,
fickt, ißt und nimmt ein Rauschmittel. Es gibt in
diesem Gedicht keine bombastische Ausstattung

für dich. Das .Gedicht hier geht nicht, liegt nicht,
schläft nicht, es kennt keinen Tag, es kennt keine
Nacht. Du brauchst hier in diesem Gedicht keine
Rechnungen zu bezahlen. Es gibt keinen Hausbesitzer

in dem Gedicht hier, der die Miete erhöht. Es gibt
keine Firmen in diesem Gedicht. Es gibt in dem
Gedicht keinen Staat Kalifornien. Es gibt kein
Oregano in dem Gedicht. In diesem Gedicht gibts

kein Meer. Du kannst in dem Gedicht hier nicht
schwimmen. Das Gedicht, das hier steht, enthält keine
Wärme, das Gedicht enthält keine Kälte. Das Gedicht
hier ist nicht schwarz, es hat keine Fenster und

kennt keine Angst. Das Gedicht hier zittert
nicht. Das Gedicht hier ist ohne Spiegel. In diesem
Gedicht gibts auch kein Spiegelei. Einen Supermarkt
gibt es hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht,

das du hier liest, hat keine Titten und keine Fohse,
das Gedicht hier ist völlig körperlos. Keiner stöhnt
hier in dem Gedicht. Das Gedicht blutet nicht, es
verschweigt nichts, das Gedicht hat keine Regel,

das Gedicht ist kein Zitat, für keinen. Hier in
diesem Gedicht findet niemand einen Pfennig,
und hier in diesem Gedicht fährt kein Mensch mit
einem Auto. Keine Reifen quietschen um die Ecke.

In diesem Gedicht lutscht niemand zärtlich an
einem Schwanz. Es gibt hier in dem Gedicht keine
Lampen. Das Gedicht ist kein gelber Schal. Das
Gedicht, auf das du .hier schaust, hustet nicht.

Hier in dem Gedicht kannst du nicht küssen.
Hier in diesem Gedicht wird auch nicht gepißt. Du
kannst mit diesem Gedicht nichts anfangen. Das
Gedicht besteht aus lauter Verneinungen. Die

Verneinungen in diesem Gedicht werden immer mehr.
Hier gibts einen Kiff in dem Gedicht. In diesem
Gedicht lacht kein Mensch. Das Gedicht kennt keine
Arbeit. Niemand sieht in diesem Gedicht Fernsehen.

Das Gedicht trägt keine Uhr. Das Gedicht ist nicht
zeitlos, Es braucht soviel Zeit, wie du brauchst,
um das Gedicht hier zu lesen. Kein Wasserhahn
tropft in dem Gedicht hier, und keiner verlangt

in dem Gedicht hier nach Zigaretten. Hier das
Gedicht gibt kein Trinkgeld. Keine Toilette ist
hier in dem Gedicht. Es gibt keine Stadt in diesem
Gedicht. Hier in dem Gedicht wäscht keiner sich die

Füße. In die Schule zu gehen, ist hier in dem Gedicht
nicht nötig. In dem Gedicht leckt auch keiner eine
Möhse. Dein Geschlechtsteil richtet sich hier in
dem Gedicht nicht auf. Du kannst hier in dem Gedicht

dich nicht hinsetzen und denken. Das Gedicht hier
ist nicht der Staat. Es ist nicht die Gesellschaft.
Es ist kein Flipperautomat. Das Gedicht hier hat
keinen Hund. Mit diesem Gedicht kann sich keiner

identifizieren. Keine Polizisten fahren in diesem
Gedicht herum und suchen nach einem Bruch. Eine Kuh
liegt hier in diesem Gedicht nicht. Das Gedicht hier
ist nicht gedankenlos. Das Gedicht hier ist nicht

gedankenvoll. In dem Gedicht erscheint auch kein
Sommertag. Es ist niemals Dienstag in diesem Gedicht,
es gibt keinen Mittwoch. in diesem Gedicht, es herrscht
nicht Freitag in diesem Gedicht und kein Donnerstag

fehlt in dem Gedicht hier. Es ist nicht Montag,
Samstag und Sonntag in hier dem Gedicht. Das Gedicht
hier ist nicht die Verneinung von Montag oder
Donnerstag. Das Gedicht hört hier einfach auf.


^up

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Mondlicht in einem Baugerüst

am Ende des 20. Jahrhunderts, einfach wie
Mondlicht in einer übriggebliebenen
Allee, schön wie ein langes Klaviersolo Lennie Tristanos,
ein Bücherregal mit noch nicht gelesenen

Büchern, kräftig wie ein Güterzug, flache Schatten,
Entzückungen: voller Mond im September über der.
Seitenstraße in der Innenstadt abends 9 Uhr. Das Wort
Mondlicht erinnert mich u. a. an Mondlicht und

nachts im leeren Gang eines Schnellzuges am Fenster
zu stehen und hinauszublicken auf eine Landschaft,
über der das Mondlicht ausgebreitet ist, offen,
gewöhnlich und unsentimental wie eine dunkle

Tankstelle in der sonst menschenleeren Weite,
oder wie Sonntagnachmittags drei Uhr ,,hang on,
sloopy“ zu hören und auf einen leeren Park
Platz zu schauen, wo ein umgekippter emaillierter

Elektroherd liegt. Mondlicht erinnert mich an Kühe,
die im hochgewachsenen Gras liegen und
friedlich wiederkauen, Mondlicht erinnert mich an
Zimmer, die man betritt und, ehe man das Zimmerlicht

anknipst, sieht man am Fenster eine Heizung mit darauf
Mondlicht, durch das man auf einem Weg mit vereisten
Wagenspuren im Winter geht, Eisflächen unter dem
Mondlicht mit Sternbildern darüber, aufblitzende weiße

Kristalle: Mondlicht hoch über der Neonbeleuchtung
der Straße, Mondlicht wiedergespiegelt in den breiten
Schaufensterflächen in der Innenstadt, menschen
leer, unverständlich, kulissenhaft. Mondlicht erinnert

mich nicht an Schlaftabletten, Mondlicht erinnert mich
nicht an Dialektik, Mondlicht fällt auf einen leeren
Tisch, Mondlicht fällt auf Buchstaben
und Schallplatten. Auf dem Kühlschrank steht weißes

Geschirr, zusammengestellt in der dunklen Küche, in
die Mondlicht fällt, direkt, genau, ohne Vorhänge.
Hinter den Fenstern ist ein Lichtschacht mit Mondlicht,
das mich an einen Spaziergang ohne zu reden

erinnert, das Gehen, friedlich und einverstanden,
nebeneinander. Das Sonnenlicht kocht die Zusammenhänge
auf, die Tage sind klar, Arbeit, das Durcheinander der Dinge,
die verwirrt machen, wüst und den Ausblick

verstellen, Tageslicht schafft den Umsatz, die Sonne
wandert, die Schatten verschieben sich, schieben
sich ineinander, werden flacher und lösen sich auf.
Elektrische Lichter werden angeschaltet. Im ersten

Mondlicht stehen neue Hochhäuser im Niemandsland am
Ende des 20. Jahrhunderts. Als ich aus der Haustür trete,
erinnert mich ein dunkles Fenster an 1946er Mondlicht,
Eisblumen früh abends am Fenster, das Glitzern der

kräftigen Armut, noch nicht von den Bedeutungen erschöpft,
Mondlicht ist Mondlicht, verteilt in dem weißen Farn auf
dem Fensterglas. Mondlicht ist keine Entschuldigung für
irgendwas. Im Mondlicht, bei offenem Fenster, höre ich

eine Straßenbahn unter dem Mondlicht und Stimmen
auf der Straße, Mondlicht und weiße leere Sommerstühle
im Dunkeln, Mondlicht und ,,wahnsinnig, wie viele Bäume
hier ab gestorben sind,“ sagte ich heute abend, als wir

mit dem Fahrrad die Universitätsstr. entlangfuhren,
Mondlicht und Fahrräder, das mag chinesisch klingen.
Es war volles Mondlicht und überhaupt nicht wie die zwei
krummen alten Männer, in Betrachtung des Mondes versunken,

obwohl ich mich manchmal gefragt habe, was sie einander
erzählen, wie C. D. Friedrich sie dort auf dem Schotterweg
gemalt hat, gebückt, vorgebeugt, auf ihren Krücken, in weite
Umhänge gehüllt. Die Baumwurzeln tanzten, aus dem Boden

gerissen, in einem fantastischen Schrecken. Wir fuhren
an Betonflächen entlang, wir starrten die Häuserfronten.
an: da sind Fenster, die keine Fenster mehr sind, da sind
Straßen, die keine Straßen mehr sind, da sind Häuser

und Zimmer, die keine Häuser und Zimmer mehr sind.
Hinter den Betonwänden schliefen Menschen. Haben sie
nur geschaut? Entzi4t über Mondlicht und was sie versäumten?
Kaltes Mondlicht auf der Straße, vergangenes Mondlicht und

das Mondlicht in hundertdreißig Jahren, windbewegte
weiße Helle nachts über das Gras, eine weite
Fläche hin. Das Mondlicht gibt keine Auskunft. Siebzehn Jahre
und Mondlicht in einem aufgebrochenen Eisenbahnwaggon

ist eine deutliche Situation wie Mondlicht und eine
Haltestelle im Vorort, Mondlicht auf die Kanten
und Ecken der Zimmer. Büromöbel, Aktenschränke, Schreibtische
im Mondlicht sind häßlich, und eine weiße Wand mit einem

Feuerlöscher in einem langen Flur mit Mondlicht ist ein
Feuerlöscher an einer weißen Wand wie meinetwegen Mondlicht
auf dem Mond, Mondlicht und ein Stapel Formulare, Mondlicht
und Putzfrauen, Mondlicht und zerrissener Maschendraht

und eine Sonnenblume. Ah, ich sah noch nie vorher eine
Sonnenblume im Mondlicht. Die Sonnenblume wirft einen sanften
großen Schatten im Mondlicht, erstaunlich wie Mondlicht
auf meinen Schuhen und ein dunkler, abgeschlossener

Gemüseladen im Mondlicht, Artischocken und Apfelsinen
Kisten mondlichtweiß, Auberginen im Mondlicht, Zitronen.
Und mir ist egal, ob das Mondlicht paßt oder nicht,
das Mondlicht fällt in den Supermarkt, es macht

die Dinge einfach mehr weniger, und zu fragen,
nach wieviel Stößen kommst du unterm Mondlicht ist Schwachsinn
unterm Mondlicht, und es macht gar keinen Sinn, das Mondlicht
anders zu beschreiben als mit Mondlicht. Und wenn ich sage,

das Mondlicht ist eine Türklinke im Mondlicht, heißt das,
das Mondlicht ist schön wie Mondlicht, und es ist Zeit,
mit den Vorschriften aufzuhören.


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